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Dub (R)evolution Review

Dub Evolution November 2009

„Filz“. Welche Konnotationen begleiten dieses Wort? Wärme, Behaglichkeit, gedämpfter Schall, Weichheit? „Felt“ (Dubmission), das ist der Titel des neuen Dub-Albums von International Observer (hinter dem sich der britische Producer Tom Baily verbirgt, der in den 1980er-Jahren die Pop-Band „The Thomson Twins“ leitete). Die darauf zu hörende Musik ist die Klang gewordene Assoziation des Titels; wunderschöne, melodiöse, warme, behagliche Dub-“Songs“. „Songs“ deshalb, weil die Dubs sich wie vollwertige Songs „anfühlen“, ohne dass tatsächlich Gesang zu hören wäre. Es sind kunstvolle Kompositionen, in denen jeder Ton, jeder Beat sorgfältig abgewogen und austariert zu sein scheint. Alles fließt, blubbert, rollt – unendlich relaxed und doch höchst spannungsvoll. „Relaxed“ nicht „seicht“!: Die mit Filz ausgestopften Bässe wummern kraftvoll im 44-Herz-Keller und die Sogwirkung der synkopierten Beats saugt Ohren, Kopf und Bauch unaufhaltsam durch den Viervierteltakt. Es sind eingestreute Melodica-Melodien, Klänge einer akustischen Gitarre, kontrapunktisch laufende Percussions, Akkordeon-Harmonien oder die vielen anderen, sparsam aber effektvoll eingesetzten melodiösen Zutaten, welche die Musik so entspannt wirken lassen. Tom Baily versteht Dub nicht nur als Sound, sondern als komplexes musikalisches Gebilde, das mit Bauch und Kopf zugleich wahrgenommen werden will. Es ist ein Beispiel für die Kunst, Komplexität leicht und einfach erscheinen zu lassen. Alles ist evident, selbstverständlich, klar und folgerichtig – mit einem Wort: perfekt!

Die Evolution geht weiter – und zwar mit der natürlichen Auslese: „Evolution of Dub, Volume 4, Natural Selection“ (Greensleeves). Nachdem Greensleeves die Reihe mit der Joe Gibbs-Produktion „Dub Serial“ von 1971 eröffnete, steht nun die vierte CD-Box ganz im Zeichen des visionären Produzenten und seines genialen Toningenieurs Errol Thompson.

Die Auslese beginnt im Jahr 1976 mit dem Album „Joe Gibbs & The Professionals: State Of Emergency“ das uns 10 sehr angenehmen Dubs im locker gespielten„Rockers-Style“ präsentiert. Garniert mit schönen Bläser-Melodien –, was die Tracks eher nach Instrumentals denn nach Dub klingen lässt. Zitiert werden hier vor allem klassische Riddims wie John Holt‘s „Up Park Camp“, Jackie Mittoo‘s „Our Thing“ oder „Heavenless“. Jede Melodie eignet sich sich mitsummen und der militante Rockers-Drumstyle lässt die Musik fliegen – ich muss zugeben, dass ich sehr auf den Sound dieser Zeit stehe. Nach den eher trockenen Bunny Lee-Produktionen, bekommt der Reggae nun einen gewissen Swing und die Rhythmen fangen wieder an zu rollen – worauf sich vor allem die „Mighty Two“ (Gibbs & Thompson) prächtig verstanden. Übrigens: Das Cover, auf dem jamaikanische Sicherheitskräfte drei vermeintliche Delinquenten durchsuchen, wurde angeblich 1977 von The Clash für das Album „White Riot“ zitiert.

Album zwei der Box – „Majestic Dub“ von 1979 – stand stets im Schatten von Gibbs berühmter „African Dub“-Serie. Zu unrecht, wie sich hier zeigt, denn das Album enthält einige wirklich bemerkenswerte Stücke. Es unterscheidet sich sehr von „State Of Emergency“, ist ein echtes Dub-Werk mit abgespeckter Produktion und klassischem Dub-Mix. Doch Joe Gibbs gelang es wie stets, seine Tracks so zu arrangieren, dass sie nicht zu leer, zu minimalistisch klangen. Das lag nicht zuletzt daran, dass er sich nicht scheute, moderne (und ungewöhnliche) Synthie-Sounds einzufügen, während Thompson, der begnadete Dub-Mixer, seine Vorliebe für Samples auslebte. Letzterer zeichnet wohl auch für das gänzlich unpassende, aber in seiner elektronischen Fremdartigkeit auch wiederum typische Intro-Sample von Donna Summers „I Feel Love“ verantwortlich. Natürlich kommen auch hier wieder reihenweise bekannte Riddims und Sly Dunbars leichtfüßiger Drum-Style zum Einsatz – doch wer hätte etwas dagegen?

Ein weiter Sprung ins Jahr 1984 führt zum Unvermeidlichen, nämlich der „African Dub“-Serie, von der uns hier das eher unbekanntere, fünfte Kapitel zu Gehör gebracht wird. Lange nach den vorangegangenen vier Kapiteln der Serie veröffentlicht, erreichte es den Markt, als Dub in Jamaika bereits auf dem Sterbebett lag. Der Sound hatte sich stark verändert: statt „Rockers“ war nun „Dancehall“ der prägende Stil. Entsprechend langsam, schwer und bassorientiert waren die Stücke. Wir steigen direkt mit „Full Up“ ein, begegnen kurz darauf „Heavenless“, „Taxi“ und weiteren Classics. Schöne Melodien, satter Sound, gute Mixes – meiner Meinung nach das Beste Dub-Set der Box.

Doch Album vier harrt noch der Begutachtung: „Syncopation“ von Sly & Robbie und natürlich produziert von Mr. Gibbs. Es beschließ die Box, obwohl es aus dem Jahr 1982 stammt, also zwei Jahre vor „African Dub Chapter 5“ entstanden ist. Als Freund alter Sly & Robbie-Aufnahmen legte ich es vor den anderen dreien in den CD-Player – doch es enttäuschte mich! Zum einen, weil der Bass von Robbie kaum zu hören ist – unglaublich! Zum anderen, weil die Rhythm-Twins ihrem manchmal nicht ganz stilsicheren Faible für Pop-Songs freien Lauf ließen. So kommen wir z. B. in den Genuss des Beatles-Klassikers „Ticket To Ride“ (garniert mit einem grenzwertigen Rockgitarren-Solo) oder Leo Sayers „More Than I Can Say“. Dazwischen gibt es dann aber doch auch „ordentliches“ Material: auf „Space Invaders“ und „Laser Eyes“ hören wir Slys für diese Zeit typischen Syndrum-Shuffle-Rhythmus.
Wie gewohnt finden sich im Booklet der Box ausführliche Linernotes, die im ersten Teil die Evolutionsgeschichte des Dub fortschreiben und im zweiten Teil die Historie von Joe Gibbs minutiös referieren.

The Return of Dub Spencer und Trance Hill! Zwei Jahre wurde am neuen Album geschraubt, jetzt ist es fertig: „Riding Strange Horses“ (Echo Beach). Das vermeintlich italienische Duo, das aber tatsächlich ein Züricher Trio (rund um den Bassisten Marcel Stadler) war und nun zu einem Quartett angewachsen ist, nimmt den Titel offensichtlich wörtlich und präsentiert uns vornehmlich Cover-Versionen von Songs unterschiedlicher Genres. Wie bei Echo Beach guter Brauch, gibt es natürlich Versionen von The Ruts und Martha & The Muffins. Darüber hinaus hören wir (in diesem Kontext) wirkliche „strange horses“, die hier geritten werden, wie z. B. Metallica, Deep Purple oder Grauzone. Dazu gesellen sich gelegentlich kurze Vocal-Passagen von Lee Perry, Robin Scott, W. S. Burroughs, The Catch u. a. Das macht klar, dass wir es hier mit einem großen Rock-Remix zu tun haben, mit einer Echo-Chamber also, die aus Rock-Klassikern Reggae-Dubs macht. Faszinierend ist dabei, dass die Schweizer Jungs dazu das selbe Instrumentarium einsetzen wie die Rock-Größen in den Originalen. Und genau das ist der USP von Dub Spencer und Trance Hill: Sie spielen eigentlich Rock mit einem Reggae-Offbeat – was sie akustisch übrigens stark in die Nähe des New Yorker „Dub Trio“ bringt. Groove, Timing und One Drop stimmen, doch es sind Sound und Arrangements, die hier ihre Referenz zum Rock nicht leugnen können. Mich würde es nicht wundern, wenn alle Dub-Effekte zudem live gespielt wären, so dass die Musik genau das vermeidet, was Dub eigentlich ausmacht, nämlich die kreative Bearbeitung am Mischpult. Das Ergebnis ist jedenfalls eigenwillig und faszinierend – sofern man keine Probleme mit Hooklines wie „Smoke On The Water“ hat.

Finn the Giant ist ein Dub-Produzent aus Malmö, Schweden, der vor vier Jahren das „Heavyweight Roots Dub Reggae“-Netlabel „Giant Sounds“ gegründet hat (giantsounds.com). Nun ist die Zeit reif für die erste echte, physikalische CD-Veröffentlichung: „Dub Pon Top“ (Import). 14 Dubs hat der Gigant hier versammelt: Kraftvolle Steppers-Beats, deren digitale Herkunft unüberhörbar ist. Gelegentlich gibt es Melodica-Einsprengsel oder angerissene Synthie-Melodien, doch das Hauptaugenmerk liegt ganz klar auf den Grundrhythmen, die in stoischem, meditativem Takt voranschreiten.  Dabei ist es Finn durchaus gelungen, den Beat zu variieren und melodiöse und abwechslungsreiche Riddims zu bauen. Doch so inspiriert die Riddims auch sind, der Sound ist es leider nicht. Zwar sind die Tracks dynamisch abgemischt, so dass der Groove stimmt. Aber Finn gelingt es nicht, seinen synthetisch und irgendwie „eng“ klingenden Studiosound zu eliminieren. Seine Dubs könnten viel mehr Luft und Weite vertragen. Hoffen wir, dass die Erlöse von „Dub Pon Top“ für ein neues Mischpult reichen werden …

Nach den melodiösen Reggae-Basslines gibt es nun – zum Freiblasen der Ohren – eine Exkursion in die technoid wummernden Bass-Sphären des Dubstep. Mit „Steppas‘ Delight 2“ (Souljazz) liegt eine weitere wichtige Bestandsaufnahme der Szene vor. 26 Bass-gefüllte Tracks werden uns hier regelrecht um die Ohren gehauen und in die Magengrube gerammt. Bereits Track 1, „Grime Baby“ von Gemmy, macht klar, wohin die Reise gehen wird: In ein wütendes Bass-Inferno. Wer diesen Tune zu laut aufdreht, darf hinterher die Fetzen der Subwoofer-Membran vom Boden aufsammeln. Minimal aber gewaltig. Im Verlauf des Doppel-CD-Samplers begegnen wir auch weniger radikalen Statements sowie manchem angenehmen Garage-House-Groove, und werden ganz nebenbei feststellen, dass Dubstep sich inzwischen stärker differenziert hat und über ein größeres stilistisches Spektrum verfügt. Was sich übrigens auch an neuen Namen in der Szene ablesen lässt. So finden sich hier neben Benga und Appleblim kaum „Veteranen“. Doch das junge Gemüse macht einen guten Job und wir dürfen der Zukunft des Genres hoffnungsvoll entgegen sehen.

Ein weiterer, interessanter Dubstep-Release ist „Studio Rockers At The Controls“ (Studio Rockers). Auf diesem Sampler gibt es einige Reminiszenzen an Reggae wie z. B. Samples, Bläsermelodien oder ganze Reggae-Vocals. Die 23 Tracks sind von Tony Thorpe ineinander gemixt und stammen weitgehend aus dem Archiv des Studio-Rockers-Labels. Ich kann mich nicht erinnern, den Namen Tony Thorpe je gehört zu haben, angeblich ist er aber für seine Dub-Produktionen bekannt und hat sowohl Massive Attacks „Meltdown-Festival“ geleitet, als auch Remixes für Amy Whitehouse, Erykah Badu und Lee Perry geliefert. Wie dem auch sei – sein Parforce-Ritt durch die Welt des Dubstep zeugt von gutem Gespür für Bass & Beats. Wer eine erste, vage Exkursion in das neue Genre unternehmen will, der kann hier starten.

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