Was für ein Label-Name: „Spiritual Food“! Genau danach dürstet meine Seele. Und ja, es zeugt sicherlich von einigem Selbstvertrauen eine ganze LP von gut 40 Minuten Spieldauer mit gerade einmal zwei Riddims zu füllen. Aber ist nicht genau das Dub in seiner Reinkultur? Meiner Ansicht nach total. Und wenn die beiden Riddims und die Versions dann noch so gut und überzeugend daherkommen und sowohl für die Anlage zuhause richtig Freude aufkommen lassen als auch auf dem big Soundsystem zu überzeugen vermögen, was will Freund und Freundin von tief durchtränkter Rastakultur mehr?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so groß ist meine Begeisterung für dieses Stück schwarzes Vinyl, das leider ohne Coverhülle einzig in einem weißen Papierumschlag geliefert wird (ganz im Oldschool Jamaika-Stil). Hinter der Produktion steht mit Lourenzo Bougard aka Macca Dread kein Unbekannter in der Szene. Zeichnet sich dieser doch auch für die einschlägig bekannten Youthie-Produktionen „Gecko Tones“ und „Nomad Skank“ und mittlerweile einige andere kleinere bemerkenswerte Veröffentlichungen verantwortlich (z.B. „Wise Up EP“ oder „Almandub#2“). Die Produktion ist tight und satt, hat aber für meine Ohren mit viel Perkussion und etlichen beigemischten Soundgimmicks eine gute mystische Note, die genau die Tiefe bringt, die ich so gerne mag. Spiritual Food eben, der Name ist Programm. Musikalisch sind die beiden Riddims hochstehend, sowohl melodisch als auch monoton treibend, genau in der richtigen Dosis (Paracelsus würde Luftsprünge machen). Der Hooligan- respektive Gringo-Riddim hat für mich mit seinen leicht ins kubanische antönenden Latinelementen etwas beinahe Euphorisches zu bieten und es wird mir überhaupt nicht langweilig viermal eine Instrumental- oder Dubversion hintereinander zu hören. Im Gegenteil, jeder neue Mix bringt wieder frischen Wind mit sich, andere Instrumentalparts werden ins Rampenlicht gerückt, Dub in Hochform. Besonders die „Benyah Horns Version“ mit der Posaune (die hier wie eine Trompete klingt) und die „Macca Dread Melodica Version“ mit den typisch kubanischen Pianoriffs sind echte Perlen. Sowieso liefern Benyah an der Posaune, Crucial Rob an der Ketedrum und der Cuica, die Irie Mates am Chorgesang, der Blues-Mundharmonika-Spieler Danos und Macca Dread an der Produktion, an der Melodica und an allen Dubmixes einen sehr guten Job ab. Die Dubmixes sind solid und reihen sich insgesamt geschmeidig ins Ganze ein.
Ha, jetzt habe ich just die Vocal-Versionen vergessen zu erwähnen. Hier gebe ich den beiden Sängern Zion Irie auf dem Hooligan-Riddim und Ras Tweed auf dem Point Finger Pon-Riddim ebenfalls Höchstnoten. Astreine conscious Lyrics, hört selbst hin. Und wie insbesondere Ras Tweed mit seiner ganzen Erfahrung bei „Point Finger Pon“ in den Flow kommt, dann wieder Tempo rausnimmt, hat etwas zutiefst Mitreißendes. Zuletzt möchte ich noch die beiden liebevoll gestalteten Porträts der Sänger erwähnen, die quasi das Cover ersetzen und der Künstlerin Aude Saloni zu verdanken sind. Diese Veröffentlichung ist zwar keineswegs ein klassisches Album, aber genau das richtige, um in dieser dunklen, kalten Jahreszeit die Sonne ins Dub-Herz und die Energie ins Tanzbein fließen zu lassen. Jahman!
Kategorie: Review
King Size Dub 24
Und da ist sie wieder, die neue „King Size Dub“! Aktuell ist es „King Size Dub 24“ (Echo Beach). Fünf Jahre wurden unterschlagen, denn Reihe existiert schon seit 29 Jahren. 2024 steht also ein Jubiläum an! Die aktuelle, 24igste Ausgabe präsentiert satte 23 Tracks – laut Label sind 90 Prozent davon exklusive Titel. Natürlich sind die bekannten Namen aus dem Echo Beach-Stall dabei, unter anderem Noiseshaper, Dubblestandart, Dub Spencer & Trance Hill, Dub Syndicate, Illbilly Hitec, Dubinator und – wie sollte es anders sein – Martha & The Muffins. Aber es gibt auch eine ganze Menge frischer Artists außerhalb des bekannten Echo Beach-Universums. So überraschen Blundetto & Soul Sugar mit dem bescheidenen, ruhigen „Don’t Cry, It’s Only the Rhythm“ – eine wirklich äußerst schöner Tune. aDUBta liefert eine dumpfe, drückende und irgendwie magische Version des Cassava Piece-Riddims ab, die mich in ihren Bann zieht. Captain Yossarian kontert mit dem funkigem „Expensive Shit“. Insgesamt empfinde ich das Album als wunderbar frisch – es präsentiert mal wieder das große Spektrum des Dub. Label-Inhaber Nicolai ist ja bekannt dafür, dass er nicht viel von Genregrenzen hält, und genau diese Einstellung lässt jede neue King Size Dub zu einem spannenden Überraschungspaket werden. Ich bin jetzt schon gespannt auf die #30. No pressure, aber die muss groß werden!
Mich fasziniert der meditative, melancholische und abgrundtiefe Sound von Alpha Steppa. Die DNA von Vater und Tante, also von Alpha & Omega ist unverkennbar, und es gibt kaum einen aktuellen Dub-Artist mit einem so einzigartigen Signature Sound. Mad Professor war früher ähnlich erkennbar – und natürlich Alpha & Omega. Mit seinem Stil setzt sich Alpha Steppa deutlich von der konventionellen Steppers-Szene ab, bleibt aber zugleich hundertprozentig Sound System-kompatibel. Auch beim aufmerksamen Zuhören über Kopfhörer hat seine Musik viel zu bieten: Sie ist vielschichtig, komplex und nie langweilig. Zudem hat der Thronfolger in der Dub-Dynastie ein geniales Händchen für begnadete Vocal-Artists. Nai-Jah war für mich eine solche Entdeckung, aber auch Awa Fall und Wellette Seyon, mit denen er komplette Solo-Alben veröffentlichte. Sein neues Album „Collision of an Ancient Mind and a Modern World“ (Steppas) besticht wieder mit großartigen Vocal-Tunes. In der digitalen Version ist das Album zweigeteilt: Disc 1 enthält zwölf Vocal Tunes, unter anderem von Joe Yorke, Tanganyika, Sheila Langa, Fikir Amlak und Ras Tinny in einem Acapella-Solo. Disc 2 liefert dann die Dub-Versionen nach. „This album features some of my favourite voices in contemporary reggae and beyond, from Jamaica, the UK, Zimbabwe, the Seychelles, Brazil, the USA, Senegal, Italy, and Spain“, erklärt der Dub-Produzent. „With this record I set out to build a unique sound and atmosphere, the idea was to blend the rich heritage of dub with a vibrant, futuristic musical landscape.“ Beim Thema „Atmosphäre“ habe ich keine Einwände – im Gegenteil: Es ist hier immer wieder die Atmosphäre seiner Musik, die mich einnimmt und fasziniert. Wer allerdings bei „futuristic musical landscape“ an Einflüsse unterschiedlicher Musikkulturen denkt, liegt meiner Meinung nach falsch. Hier ist alles 100 Prozent Reggae und Dub und typischer Alpha Steppa-Sound. Nichtsdestotrotz liefern die Vocalists durch die Bank richtig gute Songs ab. Jeder einzelne Track präsentiert eine ausgefeilte Melodie, und fast alle glänzen sogar mit cleveren, sozialkritischen Texten auch jenseits Reggae-typischer Themen. Vielleicht ist auch der Albumtitel auf diese sozialkritische Tonalität gemünzt, denn linke, auf Gerechtigkeit und Diversität zielende Haltungen werden in unserer modernen Welt ja unverkennbar immer seltener.
Ich liebe den hypnotischen, harten Dub-Sound von Soundsystem-Sessions – diese repetitiven Rhythmen ziehen mich immer wieder in ihren Bann. Aber in letzter Zeit wächst meine Begeisterung für handgemachte, analog produzierte Musik noch stärker. Ich habe das Gefühl, dass sie „reicher“ und der Klang komplexer ist – natürlich nur, wenn sie richtig gut gespielt, aufgenommen und produziert ist. Abgesehen davon hege ich eine richtig große Wertschätzung für talentierte Musiker und Musikerinnen. Es ist einfach eine wahre handwerkliche Kunst, gute Instrumentals und Dubs manuell präzise und im perfekten Timing einzuspielen. Nachdem ich mich zuletzt ausführlich mit KI-generierter Musik beschäftigt habe, ist meine Wertschätzung für von Menschen geschaffene Musik noch einmal gewachsen. Und genau in dieser Stimmung fällt mir jetzt das neue Album von Message, „Showcase II“ (Messengers), in die Händen – und was soll ich sagen? Bereits „Showcase I“ hat mich begeistert, und jetzt bin ich bei „Showcase II“ erneut verzückt. Am Konzept hat sich – zum Glück – nichts geändert. Das Album enthält sieben Instrumentals und sieben Dub-Versionen. Lead-Instrumente sind wieder meist Melodica, Posaune und manchmal auch ein Keyboard. Alle Stücke sind Eigenkompositionen der Band, wurden live im Lone-Ark-Studio in Santander (Nordspanien) eingespielt und auf gutem, alten Magnetband aufgenommen. Studio-Mastermind Roberto Sánchez saß selbst an den Drums und übernahm auch die Aufnahme. Und natürlich wird das Ganze erneut als Hommage an den jamaikanischen Reggae der 1970er Jahre verstanden. Schon beim ersten Hören ist zu hören, dass Message nicht einfach nur kopiert, sondern die Essenz des Genres einfängt und neu interpretiert. Das gelingt den Musikern nicht zu letzt durch die Live-Aufnahme perfekt, denn nur so gelingt es wirklich, die Energie und die Vibes einzufangen, die den Roots Reggae so besonders machen. Es verleiht dem Album eine besondere Magie und einen authentischen, lebendigen Klang, der digitalen Produktionen oft vorenthalten bleibt (die dafür aber andere Qualitäten haben!). „Showcase II“ ist ein Werk, das nicht nur die musikalischen Architekten des Genres – also die jamaikanischen Musiker der 1970er Jahre – ehrt, sondern auch zeigt, wie die Band Message ihren eigenen Weg innerhalb dieser Tradition gefunden hat. Jeder Track auf „Showcase II“ strahlt den Spirit der Band aus, das Gemeinschaftsgefühl und die Liebe zur Musik. Hier kommt das Beste, was der Reggae zu bieten hat zusammen: Handwerkliche Brillanz, perfekte Produktion und nicht zuletzt richtig gute Kompositionen. Mal abwarten, ob ich bei „Showcase III“ wieder solche Lobeshymnen anstimmen muss. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen.
Jim the Boss und seine Hi Fi Rockers Studioband haben mit „Dubs from the Grave“ (Hudson Soul) ein zur Jahreszeit perfekt passendes Album voller gruseliger Effekte zusammengestellt. Pünktlich zu Halloween gibt es nach fünf Jahren kreativer Pause ein neues Mini-Album für Fans des keltischen Feiertags und des Reggae/Dub-Genres, das sich mit Themen wie Duppies, Geistern, Vampiren, Zombies und anderen untoten Kreaturen beschäftigt. Damit ist dieses Album der ideale Soundtrack für jede Halloween-Party. Aber nicht nur das: Der in der afrikanischen Kultur tief verwurzelte Geisterglaube ist in Jamaika seit jeher allgegenwärtig. Man braucht wirklich nur ein bisschen nachzudenken, und schon fallen einem jede Menge Songs ein, die sich mit diesem Thema beschäftigen: The Wailers – Duppy Conqueror (1970); The Upsetters – Haunted House (1970); Devon Iron – Ketch Vampire (1976) oder Peter Tosh – Vampires (1987). Unter den Alben ist „Scientist Rids The World Of The Evil Curse Of The Vampires“ (1981) mit Titeln wie „Your Teeth In My Neck“, „Plague of Zombies“ und „Night Of The Living Dead“ besonders hervorzuheben.
Gerade noch rechtzeitig melden sich der Dub-Maker Jim the Boss und seine HiFi Rockers zurück, um uns ein neues Album mit Reggae-Dub-Titeln zu präsentieren. Die 7 Tracks sind gespickt mit gruseligen Soundeffekten, Monsterlachen und Stimmeffekten von ‚Dr. Frankenboss‘ – Jims Alter Ego für dieses Album. Die Originalversionen der Tracks wurden in den vergangenen Jahren aufgenommen und werden in diesem Remix zu neuem Leben erweckt. So wurde „Big Man Dead“ bereits 2014 auf der „American Sessions“ EP von Miserable Man veröffentlicht und „The Dark Art“ ist eine Neuauflage des „Dark Art“-Riddims der bereits auf dem „Hudson Soul“-Album zu hören war. Die beiden Tracks „Halloween Town“ und „Queen of the Dead“ – eine Dub-Version von Jah Adams „My Love For You“ – wurden im Laufe des Jahres 2017 als reine Radio-Promos veröffentlicht.
„American Horror Story“ ist ein tanzbarer, spaciger und dubbiger Track, bei dem man nicht drumherum kommt, die Hufe zu bewegen.
„Queen of the Dead“ mit schaurigem Gelächter und Soundeffekten ist ebenso körperbetont. Ein vorwärtstreibender Riddim, der auf einer schönen fetten Bassline reitet.
„Halloween Town“, vorgetragen in einem ziemlich witzigen (afrikanischen?) Akzent, finde ich besonders erwähnenswert. Wir hören eine kraftvolle und eindringliche Version des Lee „Scratch“ Perry & The Stingers Riddims: „Give Me Power“.
„Big Man Dead“ erinnert mich in Text und Flow entfernt an Linton Kwesi Johnson und seine Dennis Bovell Dub Band.
„The Dark Art“ beginnt mit dem exemplarischen Lachen einer bösen Hexe und mündet in ein wunderschönes Stück Musik, gespickt mit präzisen Saxophonpassagen von Dave Hillyard und hüpfenden Keyboards.
„Throw me Brain“ ist ein Remake des Studio-One-Klassikers „Throw me Corn“ und das Intro stammt von Lee „Scratch“ Perry.
Alles in allem macht mir diese kleine aber feine (Dub-)Sammlung richtig Spaß und dieser eher traditionelle Dub-Reggae bietet weit mehr als nur saisonale Halloween-Tracks. Ich, für meinen Teil, kann und werde das Album sicherlich das ganze Jahr über hören.
Horace Andy: Showcase (Deluxe Edition)
Der mittlerweile 73-jährige Roots-Reggae-Sänger Horace Hinds uns allen besser als Horace ‚Sleepy‘ Andy bekannt, ist immer noch aktiv. Gerade hat er in Zusammenarbeit mit Jah Wobble, dem ehemaligen Bassisten der Post-Punk Band „Public Image Ltd. das Album „Timeless Roots“ herausgebracht.
Seine erste Single nahm er 1967 für den Produzenten Phil Pratt auf. Doch „This is a Black Man’s Country“ blieb erfolglos. Erst 1970 gelang ihm der große Durchbruch. Nachdem er im Studio One von Coxsone Dodd als Duo mit Frank Melody erfolglos vorgesungen hatte, versuchte er es wenige Tage später nochmal alleine und hatte Erfolg. Die 70er Jahre waren Horace Andys produktivste Zeit. Mit seinem unverwechselbaren Falsett-Gesangsstil sang er auf unzähligen klassischen Produktionen für Reggae-Produzenten wie King Tubby, Everton DaSilva, Gussie Clarke, Lloyd ‚Bullwackie‘ Barnes, Bunny ‚Striker‘ Lee, Tad Dawkins, Prince Jammy und für Keith Hudson nahm er z. B. „Don’t think about me“ auf. Ende der 1980er wurde es etwas ruhiger um Horace Andy. Durch seine Zusammenarbeit mit den Trip-Hop-Pionieren Massive Attack gewann er in den 1990er Jahren eine neue Generation von Fans. Auch in den folgenden Jahren nahm er immer wieder neue Musik auf. So erschien 1999 das Album „Living in the Flood“ auf dem Melankolic-Label von Massive Attack. Außerdem nahm er Alben für Mad Professor, Jah Shaka und Bunny Gemini auf und war Teil des Weltmusikprojekts „1 Giant Leap“. Mit den Riddim-Zwillingen Sly & Robbie entstand 2007 das beeindruckende Album „Livin‘ It Up“. Wie eingangs erwähnt, ist Horace Andy immer noch aktiv und tourt durch die ganze Welt.
Das Album „Horace Andy: Showcase“ (TADs), um das es hier geht, ist eigentlich eine Sammlung von Singles, die ursprünglich 1980 und dann 1984 von Vista in einer klanglich verbesserten Version veröffentlicht wurden. Jetzt gibt es eine um 12 Tracks erweiterte Re-Release Deluxe Edition. Alles bekannte Riddims und Klassiker, die Horace Andy in Bestform zeigen. Wir hören einen großartigen „Shank I Sheck“ Riddim und „Striktly Rub A Dub“ repräsentiert den Heavenless Riddim. Die nächsten Roots-Tunes „Chant Rastaman Chant“ und „Dub Chant“ lassen keine Zweifel aufkommen, denn das ist der Burial Riddim. Die Backing-Band sind die Roots Radics und gemixt wurde das Album von Sylvan Morris und Tad A. Dawkins. Lediglich der Opener „Cus Cus“ mit seinem „Chatty Chatty Dub“ ist eine Harry J. Produktion. Doch irgendwie machen mich diese Angaben und mein Gehör etwas stutzig, denn vom Sound her könnten die Tracks und ganz besonders die 12 Dubs auch von Scientist abgemischt worden sein.
Ob nun Sylvan Morris und Tad A. Dawkins oder Scientist dieses sehr schöne Album abgemischt haben, ist eigentlich zweitrangig. Viel wichtiger ist doch, was uns unterm Strich geboten wird, und das ist schlichtweg exzellent.
Vorsicht! Diese Musik ist ziemlich sperrig, ja, man könnte sogar sagen: atypisch. Aber denkt, was ihr wollt, gerade deshalb höre ich Keith Hudsons Alben immer noch mit wachsender Begeisterung. Der „Dark Prince of Reggae“, der 1984 im Alter von nur 38 Jahren an Lungenkrebs starb, hatte von Anfang an seinen ganz eigenen Sound, den nicht nur ich hypnotisierend finde.
Die viele Jahre vergriffene „Keith Hudson: Playing It Cool & Playing It Right“ (Week–End Records) verkörpert exemplarisch seine Vorstellung von Dub-Reggae mit schleppenden Riddims, vielschichtigen Backing Vocals und purem Groove. Man sagt, das 1981 erstmals veröffentlichte Showcase-Album sei wegen seiner großen Variationsbreite Keith Hudsons meist bewundertes und auch bestes Werk. Hudsons Gesang, der verständlicherweise wirklich nicht jedermanns Sache ist, variiert von sanft bis hin zu treibenden Beats und gelegentlichen Rap-Einlagen. Eine Besonderheit des Albums ist, dass Hudson nach seinem Umzug nach New York im Jahr 1976 mit Lloyd ‚Bullwackie‘ Barnes, dem ehemaligen Protegé von Prince Buster, wieder in Kontakt kam. Sie kannten sich bereits aus Jamaika. Zu einer Zusammenarbeit kam es aber erst 1981. Diesmal agierte Lloyd Barnes als Executive-Producer.
Aber alles von Anfang an: Für „Playing It Cool & Playing It Right“ nutzte Keith Hudson das Bullwackies Studio. Lloyd Barnes ging mit Keith Hudsons Songmaterial sehr behutsam um, denn Keith hatte seinen ganz eigenen Sound und Barnes seinen typischen Wackies-Studio-Sound, der immer wieder Erinnerungen an Perrys Black Ark weckte. So ist ‚Bullwackies‘ Beitrag zum 1981er-Album eher als Austausch von Ideen, Ratschlägen und möglichen Entscheidungen zu verstehen. Auf dem Album, das fatalerweise seine vorletzte Veröffentlichung werden sollte, interpretierte Keith Hudson mit kreativer Unterstützung von Lloyd Barnes sechs seiner alten Rhythmen neu.
Der „Depth Charge“-Riddim aus „Pick A Dub“ findet sich hier in Form von „Trust & Believe“ und seinem Dub-Pendant „In I Dub“ wieder. Spätestens bei „California“/„By Night Dub“ nimmt das Album eine düstere Wendung, der Drive verändert sich merklich. Zwei Sängerinnen, The Love Joys, liefern die Backing Vocals, während Hudson von der „darkest Night on the wet-looking Road“ singt/spricht, die sowohl seinen Kopf als auch seinen Roadtrip umhüllt. Verzerrte Gitarren und düstere, zerbröckelnde Schlagzeugbeats rühren einen dichten Dub-Schlamm auf, der alle Wegweiser verdunkelt. Selbst im schleppenden Tempo bleibt die Landschaft diffus.
Bei „Not Good for Us“/„Formula Dub“ bekommen wir doppelt und dreifach gespieltes, bedrückend verstimmtes Gebrabbel und verrücktes Gekrächze. Hudson schreit „too much Formula ain’t good for my Head, ain’t good for the Dread“. Das Klavier stolpert hinterher, die verzerrten Gitarren drohen sich vom Band zu lösen, während der Beat immer wieder aus dem Bewusstsein herüber flackert.
In „Be What You Want to Be“/„Be Good Dub“ lässt Hudson Percussions und Gitarren endlos mitschwingen und nachhallen.
Am gefühlvollsten finde ich das letzte Stück „I Can’t Do Without You“, alleine der Text zeigt beeindruckend, wie viel amerikanischer Soul, Funk und Rock damals in Hudsons Produktionen eingeflossen sind. Im anschließenden Dub „Still Need You Dub“ hört man deutlich die Barrett-Brüder – Carlys unverkennbare Drums meine ich ganz eindeutig wahrzunehmen.
Das Album ist nur etwas mehr als eine halbe Stunde lang, hat aber einen spürbaren Vibe, der mich entfernt an Lee ‚Scratch‘ Perrys „Super Ape“ erinnert. Als Ganzes betrachtet macht mir Keith Hudson mit seinen Alben immer sehr viel Spaß, denn sie zeigen die (dunkle) Seite des Reggae, die man auf vielen populären Reggae-Alben so gut wie nie findet. Ich freue mich jedenfalls, dass zum 40. Todestag eines einzigartigen Künstlers ein echter Klassiker – eine psycho-akustische Reise in die Abgründe des Seins – wieder auf LP erschienen ist. Für die Einzigartigkeit dieses Albums gäbe es die volle Punktzahl, aber wegen der etwas holprigen Übergänge vom Song zum Dub gibt es leider ein Sternchen Abzug.
Mick Dick: A Dub Supreme
John Coltranes „A Love Supreme“ gilt seit seiner Veröffentlichung 1965 als eines der besten Jazzalben aller Zeiten. In der Tat gibt es wohl kein Jazzstück, das so nachvollziehbar, intensiv und anziehend von spirituellen Gefühlen geprägt ist wie diese rund 33-minütige Suite in vier Sätzen: „Acknowledgement“, „Resolution“, „Pursuance“ und „Psalm“. Dieses Album ist der größte Beweis für das Genie eines Komponisten, dessen Virtuosität nur von der Faszination seiner Musik übertroffen wird.
Insbesondere in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren eröffnete das Album vielen Rockmusikern neue Wege und Perspektiven. So kam ich 1973 zum ersten Mal mit einer Adaption von „A Love Supreme“ von Carlos Santana & John McLaughlin in Berührung und war begeistert. Erst danach habe ich mich intensiv mit dem Original beschäftigt. Wenn jetzt die Adaption von Mick Dick für einige Interessierte den gleichen Effekt hat – umso besser.
Der mir bis dahin völlig unbekannte Regisseur, Produzent, Bassist, Sounddesigner und Dub-Künstler Michael „Mick“ Dick begann 1984 am Victorian College of the Arts in Melbourne Jazz und Kontrabass zu studieren. Er wurde Mitglied der MIA (Melbourne Improvisers Association) und entwickelte sich zu einem professionellen Musiker und Klangkünstler. Seit mehr als 30 Jahren tritt er auf, tourt und spielt mit einer Vielzahl von Künstlern verschiedenster Genres, darunter (Free)Jazz, Blues, Reggae, Afro, Latin und experimentelle Musik. Sein Doppelalbum ID of RA – eine Hommage an Sun Ra – erhielt in Australien eine Nominierung für den ARIA Award als bestes Weltmusikalbum 2023.
Fast 60 Jahre! später machte sich der australische Multiinstrumentalist beinahe im Alleingang daran, aus dem Jazzklassiker das Dub-Album „Mick Dick: A Dub Supreme“ zu machen. Dabei hat er die vier Teile des Originals beibehalten. Wie beim Original hat jeder Teil seine eigene Stimmung und Bedeutung. Aus „Acknowledgement“ wird „Dubknowledgement“ und die Eröffnungskadenz, eine einfache Melodie, die auch im Original aus nur vier Tönen besteht, wird in verschiedenen Variationen, Tonarten und Klangmanipulationen durchgespielt. Das Thema durchzieht den gesamten Track, der wie das Original in afrikanischen bzw. lateinamerikanischen Rhythmen gehalten ist. Teilweise klingt die Gitarre auch nach Juju-Musik aus Nigeria, deren bekannteste Vertreter King Sunny Adé oder Ebenezer Obey sind.
In „Dubolition“ setzt die Melodica dort ein, wo im Original „Tranes“ Saxophon zu hören ist. Insgesamt finde ich den treibenden Track spannend, auch wenn die Drum Loops von Prince Fattys Kumpel Horseman teilweise etwas einfallslos wirken. Dafür entschädigt mich „Dubonance“ voll und ganz. Das Schlagzeugsolo des Originals wird durch Percussion und Mbira (Kalimba) ersetzt. Mick Dick kreiert hier Klänge, indem er sie konstruiert und dekonstruiert und dem Moment erlaubt, durch Vibration und Resonanz eine Erzählung zu erschaffen. Eine Klanglandschaft, die dem jamaikanischen Vorbild am ähnlichsten ist. Mit dem mystisch klingenden „Dubness“ endet dieses höchst spannende Album mit einem Ausflug ins Trip-Hop-Genre der frühen 1990er.
Zusammengefasst ist dieses knapp 30-minütige Album mit den Worten von Mick Dick: „Eine vierteilige kulturübergreifende Reise, bei der sich Reggae-, Jazz-, Dub- und Trip-Hop-Grooves zu einer kinematischen Palette verbinden. Es vermischt jamaikanische Riddims, keltische Sufi-Beats, afrikanische Percussions und ethnische Instrumente wie Dholak und Kalimba in einem analogen Live-Mix, der dem Dub-Stil treu bleibt.“ Seine ganz persönliche Weltmusik-Dub-Hommage an John Coltranes „A Love Supreme“. Genau so isses! Seit langem mal wieder ein weiteres „Dubios Dub-Album“.
Scientist: Direct-To-Dub
Vor über 44 Jahren habe ich mein allererstes Scientist-Album „Heavyweight Dub Champion“ zu Hause auf den Plattenteller gelegt – ein »Blindkauf«. Bereits nach den ersten Takten habe ich dieses Album geliebt. So etwas hatte ich noch nie gehört. Scientist zauberte aus Barrington Levys Song-Album „Robin Hood“ ein Dub-Album, wie es radikaler damals nicht hätte sein können. Zusammen mit dem Dreamteam Henry ‚Junjo‘ Lawes als Produzent, den Roots Radics und Scientist am Mischpult entstand ein satter, trockener Sound, den man so noch nie zuvor gehört hatte. Gerade fällt mir ein, dass Scientist auch zusammen mit Helmut Philipps auf dem Cover des Dub Konferenz Buches zu sehen ist. Warum wohl? Scientists Beitrag zum Dub ist meiner Meinung nach nicht einmal mit Gold aufzuwiegen, er hat ihn einfach radikal weiterentwickelt und auf ein neues Level gehoben. Viele Jahre und, wie man liest, rund 60.000 Aufnahmen später hat Hopeton Overton Brown alias Scientist bewiesen, dass er immer noch zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Dub gehört. Umso mehr freue ich mich, etwas Neues vom Großmeister auf die Ohren zu bekommen. Umgeben von analogem Vintage-Equipment entstand „Scientist: Direct-To-Dub“ (Night Dreamer) in einer Art und Weise, die an seine frühen Tage als Sechzehnjähriger bei King Tubby erinnert, wo alles begann. Für die Night Dreamer-Session versammelte Scientist Musiker aus der Londoner Reggae-Szene, darunter die Rhythmusgruppe Mafia (Bass) und Fluxy (Schlagzeug) von The Instigators, den Gitarristen Tony Ruffcut von Creation Rebel, den SingJay Donovan Kingjay, den Keyboarder Greg Assing von Jah Shaka oder den Twinkle Brothers und den Saxophonisten Finn Peters. Verstärkt wurde die Crew von Salvoandrea Lucifora, einem Posaunisten aus Amsterdam und Kopf der niederländischen Zebra Street Band, sowie den Backgroundsängerinnen Alyssa Harrigan und Peace Oluwatobi. Für die Aufnahmen nahm Scientist fast das komplette Studio auseinander und baute es nach seinen Vorstellungen wieder zusammen. Allein mit der Kick-Drum verbrachte er Stunden. Der High-Pass-Filter des Mischpults wurde neu verkabelt und zwei 18-Zoll-Subwoofer angebracht. Außer Fluxy am Schlagzeug versammelte Scientist alle Musiker im Regieraum und ließ den ganzen Raum unter den satten Bässen beben. So taucht er auf seinem neuen Album „Direct-To-Dub“ in diese längst vergangenen Zeiten ein. Für das Album wurden zunächst sechs Tracks mit den Top-Musikern aufgenommen. Anschließend mischte Scientist die Tracks in Echtzeit, wobei der Mix direkt auf eine Lackplatte aufgenommen wurde, von der dann die Vinyl-LPs gepresst wurden. Schon der Herstellungsprozess ist eigentlich eine Reise zurück in die 70er Jahre, denn das recht aufwändige Lackschnittverfahren wurde nur bis in die 80er Jahre zur Herstellung von Schallplatten verwendet. In einem Interview beschreibt Scientist diese Erfahrung als „zurück in der Zeit“. Der Meister am Mischpult spielt sein »Instrument« und weiß ganz genau, wann er etwas aus dem Mix herausnehmen oder behalten, ausdehnen oder wiederholen muss. Es gibt donnernde Bläser mit viel Hall, Snare-Knackser, die noch in Raum und Zeit widerhallen, während Bass- und Schlagzeugkicks dir einen Schlag auf den Solarplexus verpassen. Wir alle wissen, dass Dub in den falschen Händen zu einem undefinierbaren Brei werden kann, so als hätte jemand alle Effekte in eine Waschmaschine geworfen und auf das Beste gehofft. Aber unter der Obhut eines Meisters wie Scientist meint man zu wissen, wann nur ein Bächlein an Effekten aus den Boxen fließt und wann die Dub-Flut kommt. Jeder der sechs Tracks wird als erweiterter „Discomix“ präsentiert. Es gibt vier Songs im Showcase-Stil und zwei coole Dubs. Wie bereits weiter oben erwähnt sorgt für den Gesang der altgediente SingJay Donovan Kingjay, der seit den frühen 90er Jahren am Start ist und hier einige seiner Lieblingssongs neu aufnimmt, die alle vor etwa einem Jahrzehnt entstanden sind. „Missing You“ ist ein sanftes Liebeslied, das durch die Background-Sängerinnen Alyssa Harrigan und Peace Oluwatobi noch verstärkt wird. „Be Thankful“ wurde ursprünglich von Dougie Wardrop von Conscious Sounds produziert und ist ein aufrichtiger Rasta-Song, bei dem Scientists Soundspielereien die Bilder des Textes von Donner, Blitz und Vergeltung widerspiegeln. „Jailhouse“ befasst sich mit dem Thema Verbrechen und insbesondere Bestrafung. Es ist eine Kritik an den zunehmend schlechten Haftbedingungen, die wiederum die Gewinne und Dividenden derjenigen steigen lassen, die diese überfüllten Einrichtungen betreiben und besitzen. „Higher Meditation“ ist mit „a whiff of an Ital spliff“ eine klassische Ganja-Hymne. Beide Tracks erschienen erstmals auf Kingjays Album von 2014, auf dem auch Crucial Tony und Mafia & Fluxy zu hören sind.
Scientist schnitt die neuen Dubs in einem einzigen Live-Take auf Night Dreamers maßgeschneiderter Neumann-Schneidemaschine direkt auf die Platte. Wo andere sich unter Druck gesetzt fühlen, ist Scientist in seinem Element. Scheinbar mühelos und gekonnt nimmt Scientist die Dinge zurück und schafft Galaxien von Raum und Zeit zwischen den einzelnen Klangspritzern. Der Bass wummert und ist allgegenwärtig, die Orgel blitzt und blubbert. Die Blechbläser sind omnipräsent und verwandeln sich stellenweise in Notsirenen. Reich und raffiniert, mit unerwarteten und unvorhersehbaren Ausbrüchen von Wildheit und Radikalität, erinnert das Ergebnis an die Blütezeit des Dub und den verdienten kometenhaften Aufstieg eines genialen Soundengineers.
Die Serie begann während der Corona-Zeit: „Tape Me Out #1“ wurde vor drei Jahren als YouTube-Video veröffentlicht. Zu sehen ist nicht viel. Die beiden Freunde Dr Charty und Jolly Joseph (= The Dub Shepherds) sitzen am Mischpult und mischen 50 Minuten lang live Dubs mit Material ihres Labels Bat Records. #2 und #3 erscheinen in schneller Folge. Dann passierte lange nichts, bis Anfang dieses Jahres #4 erschien, parallel zu ihrem Album „Night and Day“. Bis dahin stand „Tape Me Out“ für reine Videoproduktionen – was den Namen erklärt. Im Juli erschien nun „Tape Me Out #5“ als Video UND als reguläres Dub-Album. Die Mixe auf dem Album entsprechen exakt denen des Videos. Das gesamte Dub-Album wurde in einem Take gemixt – ein Prozess, den man im Video quasi live mitverfolgen kann. Ein wirklich schönes und einzigartiges Konzept, das nicht zuletzt auch von der Meisterschaft der beiden Musiker zeugt, 11 Dub-Tracks hintereinander fehlerfrei zu mixen. Während sie in den ersten Folgen der Serie noch recht entspannt am Mischpult sitzen, ist ihnen bei #5 die Konzentration und Anspannung anzumerken. 45 Minuten Dub-Mixing am Stück ist echte Schwerstarbeit.
Obwohl in diesen typischen Dub-Mixing-Videos nicht viel zu sehen ist, ziehen sie mich immer wieder in ihren Bann. So auch hier. Seltsamerweise ist es faszinierend zu sehen, wie die Musik am Mischpult entsteht. Ich finde es manchmal sogar spannender, als einem Musiker oder einer Musikerin beim Spielen eines Instruments zuzusehen. Das liegt vielleicht daran, dass eine Person am Mischpult alle Instrumente steuert und nicht nur eines. Zu sehen, wie ein Dreh an einem Knopf oder das Bewegen eines Schiebereglers den Sound verändert, Effekte auslöst oder Instrumente an- oder abschaltet – wie Musik also „gestaltet“ und gesteuert wird, ist für Dub-Nerds wie mich wirklich spannend. Allerdings höchstens so spannend, wie die Musik gut ist. Und daran gibt es bei den beiden Franzosen keinen Zweifel. Ihre eigenen Produktionen und die anderer Künstler auf ihrem Bat-Label (z.B. Pinnacle Sound) gehören zum Besten, was der europäische Reggae zu bieten hat. Wie so viele von uns Europäern lieben sie den Reggae-Sound der 70er und 80er Jahre, dem sie mit allen Veröffentlichungen ihres Labels huldigen. Natürlich wird alles analog aufgenommen, analog abgemischt und analog auf Magnetband gespeichert. Nicht selten zitieren sie historische Riddims, arbeiten mit Deejays und Sängern der goldenen Ära und mixen ihre Dubs natürlich im Stil der alten jamaikanischen Meister. Doch ähnlich wie beispielsweise Prince Fatty und andere Retro-Fetischisten in good old Europe spielen sie nicht einfach Klassiker nach, sondern liefern eine frische und originelle Interpretation dieser Musik und ihres Sounds. Und so ist auch Tape Me Out #5 kein Remake, sondern ein absolutes Newmake mit den fantastischen Stilmitteln der Vergangenheit – und ein großartiges Dub-Album.