Was für ein wunderbares musikalisches Vermächtnis wird uns hier präsentiert? Ein Album, das im Grunde bereits 1978 seinen Anfang nahm, sich als geistiges Kind weiterentwickelte und 2017 in die Tat umgesetzt wurde, um schließlich 2024 mit der Veröffentlichung seine Vollendung zu finden. Aber zuerst alles der Reihe nach.
Das Coverbild von „Roots Architects: From Then ‚Til Now“ (Fruits Records) zeigt eine typische Straßenszene in Kingston. Hunde fressen weggeworfene Essensreste vom Bürgersteig. Eine junge Frau im Hintergrund starrt den Betrachter misstrauisch an. Ältere Männer sitzen auf einer Bank und blicken mit unendlicher Geduld auf die staubige Straße, während sich ein ergrauter, bärtiger Herr mit einem Gehstock uns nähert. Ein ganz normaler Tag auf Jamaika.
Wenn wir uns mit der Geschichte des Reggae beschäftigen, wird diese meist über Sänger, Produzenten und Soundsysteme erzählt. Ein Sänger oder Toaster wurde engagiert, um über einen bereits existierenden Rhythmus zu singen oder zu skandieren. Der Produzent bezahlte die Aufnahmekosten und testete den Song bei einem Dance, um zu sehen, ob er ein Hit werden könnte. In den 1970er Jahren, als der Reggae dekonstruiert und in seinen avantgardistischen Ableger Dub verwandelt wurde, rückten die Toningenieure, die ihre Studios als Instrumente benutzten, immer mehr in den Mittelpunkt. Die engagierten Studiomusiker, die die eigentlichen Rhythmen produzierten, werden dabei oft übersehen. Außer vielleicht von ein paar Liebhabern, die immer auch ein Augenmerk auf die beteiligten Instrumentalisten hatten.
Der jamaikanisch-chinesische Roots Reggae Sänger I Kong – alias Errol Kong, Neffe des legendären Leslie Kong – veröffentlichte 1978 die LP „The Way It Is“ mit einer einzigartigen Besetzung, die fast alle führenden Session-Musiker der Insel umfasste. Obwohl das Album von den Kritikern hochgelobt wurde, floppte es finanziell, und I Kong ging in ein selbst auferlegtes musikalisches Exil aufs Land. Anfang der 2010er Jahre wurde er vom Schweizer Produzenten und Vintage Reggae Liebhaber Mathias Liengme kontaktiert. Liengme hatte sich 2011 mit Leroy „Horsemouth“ Wallace angefreundet. „Horsemouth“ dürfte vielen aus dem Rockers Film und als Schlagzeuger der frühen Burning Spear Aufnahmen bekannt sein. Einige Zeit später fand sich Liengme in Jamaika wieder, wo er die lebenden Legenden der goldenen Reggae Ära aufnahm, die das Land und den Reggae weltberühmt gemacht hatten. Durch I Kong lernte Liengme Robbie Lyn kennen. Robbie Lyn hatte auf „The Way It Is“ und Hunderten anderer berühmter jamaikanischer Aufnahmen Keyboards gespielt. Nach der gemeinsamen Arbeit an I Kongs lang erwartetem Album „A Little Walk“ wandte sich Liengme für sein ehrgeiziges Vorhaben an Lyn. Robbie Lyn öffnete sein Adressbuch, ließ seine Beziehungen spielen und das ambitionierte Projekt nahm Gestalt an. Das Werk des Schweizer Pianisten und Produzenten Mathias Liengme ist ein wahres Veteranentreffen. Im Februar und März 2017 reiste Mathias Liengme zum fünften Mal nach Kingston, um die Musiker zu ehren, die seit seiner Jugend seine Ohren erfreuten und ihn dazu brachten, eine Doktorarbeit über die jamaikanische Musik zu schreiben. Er wollte mit möglichst vielen der noch lebenden Veteranen unter den Session Musikern aufnehmen. Mit Hilfe einiger von ihnen wie Robbie Lyn, Fil Callender oder Dalton Browne gelang es ihm, mehr als 50 Musiker im Alter von 54 bis 85 Jahren für neun Instrumentalsongs zusammenzubringen. Fünfzig der größten Studiomusiker in der Geschichte Jamaikas, deren Arbeit von den Anfängen des Reggae Ende der 1960er Jahre bis heute reicht und die zum internationalen Erfolg des Reggae beigetragen haben. Dieses großartige Instrumentalalbum ist eine Hommage an die unbekannten Helden, die all diese fantastischen Riddims erschaffen haben. Allein die Namen sprechen für sich: Ernest Ranglin, Sly & Robbie, Karl Bryan, Vin Gordon, Glen DaCosta, Robbie Lyn, Ansel Collins, Dougie Bryan, Mao Chung, Boris Gardiner, Jackie Jackson, Lloyd Parks, Bo Pee, Dalton Browne, Flabba Holt, Fil Callender, Mikey Boo, Barnabas, Horsemouth, Dean Fraser, Ibo Cooper, Cat Coore, Derrick Stewart, Dwight Pinkney, Bubbler, Lew Chan, etc… Sie alle sind verantwortlich für Tausende von Aufnahmestunden und Millionen von Minuten, die von Musikliebhabern auf der ganzen Welt gehört wurden.
So sind die Roots Architects, die Legenden des Reggae, in die Studios von Kingston zurückgekehrt, um das zu tun, was sie schon immer am besten konnten: gemeinsam Instrumentalmusik machen. Herausgekommen ist ein großartiges Album, das für alle Liebhaber jamaikanischer Musik, instrumentalen Reggaes oder einfach schöner Musik unverzichtbar ist. Für Musiker ist „From Then ‚Til Now“ das, was „Inna de Yard“ für Sänger ist. Schlicht und einfach, eine Hommage an die ganz Großen. Doch leider ist „From Then ‚Til Now“ inzwischen auch zu einer Art Epitaph für die Musiker geworden, die seit den Aufnahmen im Jahr 2017 verstorben sind. Winston „Bo Pee“ Bowen, der Namensgeber des Albums, starb am 26. März 2019 im Alter von 62 Jahren an einem tödlichen Herzinfarkt. Arnold Brackenridge verstarb am 7. Oktober 2020 im Alter von 70 Jahren an Prostatakrebs. David Trail starb zu einem unbekannten Zeitpunkt in diesem Jahr. Dalton Browne war 64 Jahre alt, als er am 1. November 2021 an den Folgen einer schweren Herz-OP starb. Bongo Joe starb im Alter von 86 Jahren am 5. September 2021. Mikey Boo, dessen Schlagzeugspiel durch einen Schlaganfall und anschließende Demenz beeinträchtigt war, starb am 28. November 2021 im Alter von 74 Jahren. Nur zehn Tage später erlag Robbie Lyns guter Freund Robbie Shakespeare im Alter von 68 Jahren einer Nierenoperation. Ihm folgte noch im selben Monat der 71-jährige Mikey Chung. Der jüngste Musiker des Projekts, Bassist Christoper Meredith, starb am 27. Juli 2022 im Alter von nur 54 Jahren. Nach einer Reihe gesundheitlicher Komplikationen verstarb Lyns geliebter „großer Bruder“ und ehemaliger Bandleader Fil Callender am 27. Mai 2022 im Alter von 75 Jahren. Robbies Keyboard-Kollege und enger Freund Tyrone Downie starb am 5. November 2022 im Alter von 66 Jahren in einem Krankenhaus in Jamaika. Ihr Keyboard-Kollege Ibo Cooper verstarb am 12. Oktober 2023 im Alter von 71 Jahren.
Mögen sie alle in Frieden ruhen, während ihre unsterbliche Musik Lautsprecher, Körper und Seelen für viele zukünftige Tänze zum Schwingen bringt.
Diese Rezension widme ich meinem lieben Freund Endi (pfälzisch für Andi), der sich nach langer Krankheit ins Reich der Ahnen aufgemacht hat. Er ist, so wie die oben genannten Helden, nicht von uns gegangen, sondern lediglich vor uns.
2 Antworten auf „Roots Architects: From Then ‚Til Now“
Oh je,
nach dieser Rezension schäme ich mich regelrecht für meinen Kommentar im Release Radar. Aber naja, das musikalische Fundament wusste ich wenigstens auch zu schätzen.
Wenn man nicht, wie ich an einer Art Bläserphobie leidet, dann ist dieses Album wirklich ein Geschenk. Damit habe ich schon viel zu viel
geschrieben, was dem Album einfach nicht gerecht wird.
Daher lasse ich es jetzt auch lieber, auch nur den geringsten Funken von bad vibes, im Bezug zu dem großartigen Album, von mir zu geben.
Die Rezension ist mal wieder mit aller Liebe und maximum Respekt geschrieben worden aber der beste Satz steht hier meiner Meinung nach ganz am Ende und verblüfft mich umso mehr, da ich ihn zum ersten mal gehört oder zumindest bewusst wahrgenommen habe.
„Er ist, so wie die oben genannten Helden, nicht von uns gegangen, sondern lediglich vor uns.“
Diese Worte haben eine extrem tröstliche Wirkung, wenn ich das mal so sagen darf.
Yeah Mann !
This Is DubBlog !
Ursache, Wirkung,Musik, Liebe und Trost !!! ………………. lemmi
Da hätte ich noch ein paar Informationen, die ich nicht auch noch in meiner Rezension verwursteln wollte. Interessant finde ich sie dennoch:
1. Roots Architects – 1000 Light Years
2. Vin Gordon & Glen DaCosta feat. Sheldon „Atiiba“ Bernard – In The Shadow
3. Ibo Cooper & Lew Chang – Whitewater
4. Ernest Ranglin & Tyrone Downie – Memories Of Old
5. Vin Gordon & Glen DaCosta – Rose Hall’s Birds
6. Vin Gordon & Ernest Ranglin feat. Karl Bryan – Squirrel Inna Barrel
7. Ibo Cooper & Cat Coore feat. Glen DaCosta – Under The Cotton Tree
8. Roots Radics & Dean Fraser feat. Dwight Pickney – 45 Charles Street
9. Sly & Robbie & Dean Fraser feat. Peace Diouf – Everlasting Love