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Review

Scientist: Direct-To-Dub

Vor über 44 Jahren habe ich mein allererstes Scientist-Album „Heavyweight Dub Champion“ zu Hause auf den Plattenteller gelegt – ein »Blindkauf«. Bereits nach den ersten Takten habe ich dieses Album geliebt. So etwas hatte ich noch nie gehört. Scientist zauberte aus Barrington Levys Song-Album „Robin Hood“ ein Dub-Album, wie es radikaler damals nicht hätte sein können. Zusammen mit dem Dreamteam Henry ‚Junjo‘ Lawes als Produzent, den Roots Radics und Scientist am Mischpult entstand ein satter, trockener Sound, den man so noch nie zuvor gehört hatte. Gerade fällt mir ein, dass Scientist auch zusammen mit Helmut Philipps auf dem Cover des Dub Konferenz Buches zu sehen ist. Warum wohl? Scientists Beitrag zum Dub ist meiner Meinung nach nicht einmal mit Gold aufzuwiegen, er hat ihn einfach radikal weiterentwickelt und auf ein neues Level gehoben. Viele Jahre und, wie man liest, rund 60.000 Aufnahmen später hat Hopeton Overton Brown alias Scientist bewiesen, dass er immer noch zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Dub gehört. Umso mehr freue ich mich, etwas Neues vom Großmeister auf die Ohren zu bekommen. Umgeben von analogem Vintage-Equipment entstand „Scientist: Direct-To-Dub“ (Night Dreamer) in einer Art und Weise, die an seine frühen Tage als Sechzehnjähriger bei King Tubby erinnert, wo alles begann. Für die Night Dreamer-Session versammelte Scientist Musiker aus der Londoner Reggae-Szene, darunter die Rhythmusgruppe Mafia (Bass) und Fluxy (Schlagzeug) von The Instigators, den Gitarristen Tony Ruffcut von Creation Rebel, den SingJay Donovan Kingjay, den Keyboarder Greg Assing von Jah Shaka oder den Twinkle Brothers und den Saxophonisten Finn Peters. Verstärkt wurde die Crew von Salvoandrea Lucifora, einem Posaunisten aus Amsterdam und Kopf der niederländischen Zebra Street Band, sowie den Backgroundsängerinnen Alyssa Harrigan und Peace Oluwatobi. Für die Aufnahmen nahm Scientist fast das komplette Studio auseinander und baute es nach seinen Vorstellungen wieder zusammen. Allein mit der Kick-Drum verbrachte er Stunden. Der High-Pass-Filter des Mischpults wurde neu verkabelt und zwei 18-Zoll-Subwoofer angebracht. Außer Fluxy am Schlagzeug versammelte Scientist alle Musiker im Regieraum und ließ den ganzen Raum unter den satten Bässen beben. So taucht er auf seinem neuen Album „Direct-To-Dub“ in diese längst vergangenen Zeiten ein. Für das Album wurden zunächst sechs Tracks mit den Top-Musikern aufgenommen. Anschließend mischte Scientist die Tracks in Echtzeit, wobei der Mix direkt auf eine Lackplatte aufgenommen wurde, von der dann die Vinyl-LPs gepresst wurden. Schon der Herstellungsprozess ist eigentlich eine Reise zurück in die 70er Jahre, denn das recht aufwändige Lackschnittverfahren wurde nur bis in die 80er Jahre zur Herstellung von Schallplatten verwendet. In einem Interview beschreibt Scientist diese Erfahrung als „zurück in der Zeit“. Der Meister am Mischpult spielt sein »Instrument« und weiß ganz genau, wann er etwas aus dem Mix herausnehmen oder behalten, ausdehnen oder wiederholen muss. Es gibt donnernde Bläser mit viel Hall, Snare-Knackser, die noch in Raum und Zeit widerhallen, während Bass- und Schlagzeugkicks dir einen Schlag auf den Solarplexus verpassen. Wir alle wissen, dass Dub in den falschen Händen zu einem undefinierbaren Brei werden kann, so als hätte jemand alle Effekte in eine Waschmaschine geworfen und auf das Beste gehofft. Aber unter der Obhut eines Meisters wie Scientist meint man zu wissen, wann nur ein Bächlein an Effekten aus den Boxen fließt und wann die Dub-Flut kommt. Jeder der sechs Tracks wird als erweiterter „Discomix“ präsentiert. Es gibt vier Songs im Showcase-Stil und zwei coole Dubs. Wie bereits weiter oben erwähnt sorgt für den Gesang der altgediente SingJay Donovan Kingjay, der seit den frühen 90er Jahren am Start ist und hier einige seiner Lieblingssongs neu aufnimmt, die alle vor etwa einem Jahrzehnt entstanden sind. „Missing You“ ist ein sanftes Liebeslied, das durch die Background-Sängerinnen Alyssa Harrigan und Peace Oluwatobi noch verstärkt wird. „Be Thankful“ wurde ursprünglich von Dougie Wardrop von Conscious Sounds produziert und ist ein aufrichtiger Rasta-Song, bei dem Scientists Soundspielereien die Bilder des Textes von Donner, Blitz und Vergeltung widerspiegeln. „Jailhouse“ befasst sich mit dem Thema Verbrechen und insbesondere Bestrafung. Es ist eine Kritik an den zunehmend schlechten Haftbedingungen, die wiederum die Gewinne und Dividenden derjenigen steigen lassen, die diese überfüllten Einrichtungen betreiben und besitzen. „Higher Meditation“ ist mit „a whiff of an Ital spliff“ eine klassische Ganja-Hymne. Beide Tracks erschienen erstmals auf Kingjays Album von 2014, auf dem auch Crucial Tony und Mafia & Fluxy zu hören sind.

Scientist schnitt die neuen Dubs in einem einzigen Live-Take auf Night Dreamers maßgeschneiderter Neumann-Schneidemaschine direkt auf die Platte. Wo andere sich unter Druck gesetzt fühlen, ist Scientist in seinem Element. Scheinbar mühelos und gekonnt nimmt Scientist die Dinge zurück und schafft Galaxien von Raum und Zeit zwischen den einzelnen Klangspritzern. Der Bass wummert und ist allgegenwärtig, die Orgel blitzt und blubbert. Die Blechbläser sind omnipräsent und verwandeln sich stellenweise in Notsirenen. Reich und raffiniert, mit unerwarteten und unvorhersehbaren Ausbrüchen von Wildheit und Radikalität, erinnert das Ergebnis an die Blütezeit des Dub und den verdienten kometenhaften Aufstieg eines genialen Soundengineers.

Bewertung: 4.5 von 5.

5 Antworten auf „Scientist: Direct-To-Dub“

Was für ein Fan Review. Großartig!
Muss ich hören/haben.
Hätte vor 44 Jahren auch gerne mit so einem Album gestartet. Bad Brains und The Ruts stattdessen…

Das Lesen des Reviews ist Balsam für die Seele, Danke! Und bei Scientist weiß ich, dass der Review sicher nicht zu wenig verspricht. Damit steigert sich die Vorfreude ins Unermessliche bis ich das Album endlich zu hören bekomme.

Yo Ras Vorbei !

Hier merkt man mal wieder, wofür dein Herz schlägt. Deine Rezension sprüht geradezu vor Enthusiasmus und Leidenschaft für die Musik von Scientist. Selbst wenn man noch nie etwas von Scientist gehört hat, ist man spätestens nach der Rezension auch ein Fan von ihm.
Natürlich darf man die Musiker nicht vergessen, was du ja auch keineswegs getan hast. Bei dir werden auch die Allerwichtigsten explizit erwähnt und auch deren Namen gehen mir runter wie feinstes OlivenÖl. Hier haben wir vom ersten Ton an die wichtigste Zutat für sehr gute Dubs. Riddims vom Feinsten von souveränen Musikern excellent eingespielt.
Deine Rezension beschreibt sowohl die Arbeitsweise von Scientist als auch die Ergebnisse seines Schaffens mit Worten die mich ebenfalls ins Schwärmen geraten lassen.
„Es gibt donnernde Bläser mit viel Hall, Snare-Knackser, die noch in Raum und Zeit widerhallen, während Bass- und Schlagzeugkicks dir einen Schlag auf den Solarplexus verpassen.“
„Scheinbar mühelos und gekonnt nimmt Scientist die Dinge zurück und schafft Galaxien von Raum und Zeit zwischen den einzelnen Klangspritzern. Der Bass wummert und ist allgegenwärtig ….“
Wenn sowas in der Bibel stehen würde, würde auch ich die Bibel lesen.
Was mir ganz persönlich noch sehr gut gefällt, ist die Art, wie hier das „Gebläse“ behandelt wird. Obwohl es allgegenwärtig ist, drängt es sich in keinster Weise auf. Ich empfinde das eher so wie eine mystische Erscheinung, die ähnlich wie ein Gespenst durch den Soundgarten schwebt und immer dann, wenn es zu deutlich wird, wieder in Raum und Zeit abtaucht, nur um immer wieder im richtigen Moment aufzutauchen und für Spannung zu sorgen ……. oder so ähnlich ;-)
Zudem „extrahiert“ ( muss halt auch ein bisschen wissenschaftlich klingen ;-) ) Scientist auch immer wieder mal Töne und Soundspielchen, die wirklich nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Für mich sind das im Dub immer die HighLights, die ohne ein starkes Fundament natürlich auch nicht die volle Wirkung entfalten könnten. Hier stimmt mal wieder Alles ! Ich könnte jetzt bei gehen und einige Beispiele in Form von Minuten und Sekunden hervorheben, um es noch genauer zu beschreiben, was ich meine aber ich bin mir sicher, daß jeder aufrichtige DubHead beim Hören genau weiß, was ich meine.
Für mich ist das Alles genau das richtige für mein „Secret Laboratory inna Scientific DanceHall“

Dub is the Roots ! Dub is Scientific ! Dub is Revelation ! ………… wie man sieht, egal was ich schreibe, ich kann auf die Rezension einfach keinen mehr draufsetzen ;-)

So long ……………….. lemmi

Hallo zusammen, ich dachte gar nicht, dass meine Zeilen so enthusiastisch klingen. Aber ihr habt recht, ich kann meine Begeisterung besonders für die (frühen) Arbeiten von Scientist offensichtlich nicht verbergen. Und ehrlich gesagt, warum auch? Seine legendären King Tubby Sessions haben mich in ganz neue Klangwelten geführt.
Gerade denke ich an die Streitereien mit Greensleeves um die ersten Junjo / Scientist Dubalben, da wurde Overton Brown schon richtig übel mitgespielt. Scientist hat vor Gericht ausgesagt, dass Greensleeves seine frühen Alben ohne sein Wissen veröffentlicht hat. Im Jahr 2016 wurde der Streit noch schmutziger, als Greensleeves den Namen Scientist von einer Reihe von Wiederveröffentlichungen entfernte und durch Titel wie „Junjo Presents: Heavyweight Dub Champion“ ersetzte.
Kurz: Die legendären King Tubby Sessions erschienen nach dem Rechtsstreit als „Junjo presents:…“.

Um diese fünf Alben geht es:
Prince Jammy & Scientist: Big Showdown at King Tubby’s (1980)
Scientist: Heavyweight Dub Champion (1980)
Scientist Meets the Space Invaders (1981)
Scientist Rids the World of the Evil Curse of the Vampires (1981)
Scientist Wins the World Cup (1982)

Umso erfreulicher ist es, dass auch Scientists neuere Werke nach wie vor überzeugen und die verdiente Anerkennung finden.

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