Vor 50 Jahren begann die musikalische Karriere von Freddie McGregor. Bereits als siebenjähriger nahm er im Studio One erste Stücke auf – zunächst als Background-Sänger, später unter seinem eigenen Namen. Nun legt er nach achtjähriger Wartezeit ein neues Album vor, weitgehend produziert von C. & R. McLeod und seinem Sohn Stephen „Di Genius“ McGregor. Herausgekommen ist eine Mischung weniger mäßiger neuer Songs und einer Menge sehr schöner Cover-Versionen (George Benson, The Beatles, Bob Marley, Mighty Diamonds, Heptones und von sich selbst: F. McGregor). Insgesamt ein schönes Album. Die wenigen Schnulzen muss man einfach überhören.
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Kategorie: Reggae
Horace Andy: Broken Beats
Normalerweise läuft es so: Jemand nimmt ein Album auf, veröffentlicht es, schickt anschließend die Tracks zu befreundeten Musikern, welche Remixes produzieren, die dann ca. ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung des Albums auf den Markt kommen. Es ist die gleiche Abfolge wie beim klassischen Dub-Album: erst die Gesangs-Version, dann die Dub-Versions. Doch ebenso wie der moderne Dub damit Schluss gemacht hat, das Derivat eines Gesangsalbums zu sein, so hat sich nun offensichtlich auch der Remix von einem bisher als zwingend vorausgesetzten „Original“ emanzipiert. Das Horace Andy-Album „Broken Beats“ (Echo Beach) ist nämlich direkt als Remix entstanden. Eine geniale Idee, die konsequent und bravurös umgesetzt wurde: Das Hamburger Label Echo Beach hatte Lust auf ein neues Horace Andy-Album mit einigen seiner klassischen Hits wie Skylarking, Money Money, Cuss Cuss sowie neuem Material und lud somit kurzerhand befreundete Dub-Acts und Remix-Produzenten wie Rob Smith, Dubblestandart, Fenin, Dub Spencer & Trance Hill, Felix Wolter u. a. ein, die Musik dazu beizusteuern. Doch statt auf alte Horace Andy-Aufnahmen zurückzugreifen, entstand das komplette Album neu. Der Clou: selbst Horace Andy sang seine Songs extra neu ein. Was als Kopf-Experiment hätte leicht in die Hose hätte gehen können, liegt nun als spannendes und betörendes Album vor, das konzeptuell wie musikalisch absolut State of the Art ist. Obwohl der individuelle Stil der beteiligten Musiker unverkennbar bleibt, fügen sich alle Tracks, die Vocal-Versions sowie die Dubs im zweiten Teil des Albums, zu einem geschlossenen Ganzen, das sich jenseits enger stilistischer Grenzen von Reggae und Dub bewegt. Vordergründig macht es das Album seinen Hörern nicht leicht. Beim flüchtigen Hineinhören wirken die Beats oft etwas sperrig, lassen sich keinen bekannten Kategorien zuordnen und bieten statt kraftvollem Wumms eher zurückhaltendes Understatement. Der wahre Schatz dieser Musik erschließt sich nämlich erst beim genauen Hinhören. Dann, wenn die ruhige Kraft der Beats und die in ihrer Komplexität verborgene Schönheit offenbar werden. Und genau dann ist man als Hörer unendlich dankbar, statt bekannte Styles wiedererkennend abzuhaken, in jedem der 15 Tracks neue Überraschungen zu erleben, neue akustische Entdeckungen zu machen und schließlich das (wieder) zu finden, wofür Dub eigentlich steht: Innovation.
Bevor ich mich dem Verfassen dieses Artikels und der damit verbundenen Herausforderung einer anfänglich erschreckend leeren Dokumentenseite stelle, werfe ich noch schnell einen Blick ins Internet. Kurz mal in den iTunes-Store, dann einen Abstecher zu Amazon und schließlich zu meiner Lieblingsseite: junodownload.com. Und was begegnet mir dort? Ein Album, das ich ohne zu zögern, sofort zum Helden dieser Ausgabe der Dub Evolution küre: Resonators, „The Constant“ (Wah Wah). Was für ein Fund! Im strengen Sinne ist es ein Vocal-Album, allerdings sind die instrumentalen Passagen beinahe umfangreicher als der Gesangs-Anteil und außerdem liefert die Band das Dub-Album „Dub Collection“ zu „The Constant“ zum freien Download gleich mit. Doch Vocals hin- oder her: der Sound hinter dem Gesang ist eindeutig Dub – ohne allerdings mit klassischer UK-Dub zu sein. Im Gegenteil: Die Musik der neunköpfigen Band aus Brighton und London ist hundert Prozent analog und handgespielt – was zwar eigentlich nicht das richtige Material für typischen Dub-Sound ist – hier aber absolut perfekt funktioniert. Die Jungs hinter den beiden Frontfrauen spielen einfach unglaublich inspirierte Musik, voller Energie und Variationsreichtum. Wer jetzt eine typische Festival-Live-Band a là Jamaram oder Irie Révoltés erwartet, liegt falsch. Die Resonators sind von der simplen Song- und Musikauffassung solcher Bands meilenweit entfernt. Statt Mitgrölen ist hier eher connaisseurhaftes Zurücklehnen und Genießen angesagt und statt eindimensionaler Orientierung auf den Gesang der Rampensau, ist ein Song der Resonators ein organisches Ganzes, in dem Gesang, Musik und Dub-Effekte gleichwertige Rollen spielen, sich gegenseitig durchdringen und gemeinsam faszinierend komplexe und doch eingängige Musikstücke ergeben. Faszinierend ist auch die kostenlose Dub-Version des Albums, die allerdings nur fünf Tracks umfasst. Der unglaublich präsente Live-Sound der Band kommt hier noch stärker zum Tragen und kontrastiert spannungsvoll mit den typischen Studio-Dub-Effekten, was mich manchmal entfernt an das alte Dub Syndicate-Album „Pounding System“ erinnert. Andererseits kommt mir beim Hören auch Prince Fatty in den Sinn, dessen spielerisch-lockere, vor Ideenreichtum und ungestümer Spiellust strotzende Musik vom gleichen Geist beseelt ist. Nice! So, und jetzt muss ich bei facebook.com/Resonators erst mal „gefällt mir“ anklicken.
Spätestens seit dem großen Erfolg von Fat Freddy‘s Drop befindet sich Neuseeland auf der Reggae-Weltkarte. Doch wer hätte gedacht, dass Fat Freddy‘s Drop, Trinity Roots, The Black Seeds und alle anderen Reggae-inspirierten Bands der Insel einen gemeinsamen Urahn haben: Salmonella Dub. 1992 in Christchurch gegründet, ebnete die inzwischen fünfköpfige Band den Weg für Reggae aus Kiwi-Land. Trotz ihres Namens (den sie wegen ihrer schrägen „Bad Taste“-Cover verliehen bekommen haben) ist Salmonella Dub keine Dub-Band. Das Gegenteil ist der Fall: die meisten ihrer Stücke beinhalten Vocals. Aber nicht nur das: Salmonella Dub ist eigentlich noch nicht einmal eine echte Reggae-Band. iTunes listet sie unter dem Label „Alternative“ – was schon zeigt, dass sich die Musik stilistisch nicht so recht fassen lässt. Hört man in ihr Oeuvre, weiß man auch, warum Reggae-Fans sie bisher nicht auf dem Schirm hatten. Unser Mann in Hamburg jedoch, der Label-Chef von Echo Beach, hatte natürlich längst bemerkt, dass sich unter den stolzen 22 Alben/EPs der Diskographie der eine oder andere Reggae-Dub versteckt hielt und dass allseits geschätzte Remixer wie Groove Corporation, Dreadzone oder Adrian Sherwood so manchen Song einfach zum Reggae-Dub konvertiert hatten. Wie bei der Trüffellese pickte er sich diese hocharomatischen Tracks heraus und kompilierte sie – die Zielgruppe unbestechlicher Dubheads vor Augen – zu einem richtigen, echten Dub-Album: „For The Love Of It (Echo Beach). Hardcore-Steppers sucht man hier allerdings vergebens. Das Spektrum bewegt sich eher im Bereich zwischen tendenziell poppigen Stücken, sehr rootsigen Nummern und wunderbar hypnotischen, kunstvoll gespielten und gemixten Dubs. Gelegentlich spielt ein wenig Ambient hinein und in einem Fall gibt es sogar eine coole Mischung aus Drum & Bass und Dubstep. Alles sehr schön. Für uns Freunde des Dub ist es zweifellos ein „Best Of Salmonella Dub“-Album.
Ich bin immer wieder begeistert, wo überall, rund um den Globus, großartiger Dub produziert wird. Auffällig ist nur, dass Jamaika dabei kaum eine Rolle spielt, während Europa überproportional vertreten ist: England (natürlich), Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien, Polen – überall gibt es Dubheads, die die Fahne von instrumentaler Roots-Music hoch halten. Und natürlich – nachdem es um Twilight Circus ruhig geworden ist – jetzt auch wieder die Niederlande! Tim Baumgarten heißt hier der umtriebige Dub-Producer der Stunde, besser bekannt als Slimmah Sound – oder noch besser bekannt unter dem Namen seines Labels: Roots Tribe. 2009 machte er mit seinem „Roots Tribe Showcase Vol. 1 – Love Jah More“ donnerschlagartig auf sich aufmerksam. Dann gab es vereinzelte 10“ und 12“ bis jetzt – bis: „Roots Tribe Showcase Vol. 2“ (Roots Tribe). Wieder präsentiert Baumgarten ein Showcase-Album, das für Furore sorgen wird. Als Vokalisten mit von der Partie sind: Fitta Warri, Jah Melodie, Lyrical Benjie, Teddy Dan, Zed I und Kyle Sicarius. Sie alle bieten gute, inspirierte Songs, doch das eigentliche Highlight des Albums sind – wie sollte es anders sein – die Dubs. Offensichtlich weiß Baumgarten nicht nur als Grafikdesigner, wo der Hase läuft (sein Cover für Vol. 2 ist top!), sondern auch als Produzent und Musiker. Gemeinsam mit Gitarrist Robby Sens, hat er für den Showcase rundum gelungene Rhythms aufgenommen. Deep, deep, deep, melodiös, hypnotisch und mit einer winzigen, aber entscheidenden Spur von Live-Sound. Statt monotoner Steppers, sind hier eher filigrane, komplett durcharrangierte Tracks entstanden, denen man gleichermaßen gerne bewusst zuhört, wie man sie (wenn es die Gelegenheit denn mal gäbe!) laut und „physisch“ im Soundsystem erleben möchte.
Overproof Soundsystem: Pull It Up
Unglaublich, aber der Hit Tune „Watch What You Put Inna“ des Overproof-Soundsystems aus Birmingham ist inzwischen zehn (!) Jahre alt. Das dazugehörige erste Album neun Jahre! So gesehen wurde es Zeit, ein neues Werk nachzuschieben. Trotz der großen zeitlichen Distanz, schließt „Pull It Up“ nahtlos an das Debut an – wurde es doch erneut im Elephant House Studio unter dem wachsamen Auge der Groove Corporation produziert. Eine bunte Mischung aus 16 Stücken ist daraus hervorgegangen, von denen die meisten allerdings normale Songs sind, unter die sich ein paar wenige Dubs bzw. Instrumentals gemischt haben. Es mag ja eine reine Geschmacksfrage sein, aber ich bin der Meinung, dass die Sänger Messenger Douglas und Juggla es einfach nicht richtig drauf haben, jedenfalls erinnert mich der Gesang der beiden zu sehr an Fußball-Chöre (jetzt mal etwas übertrieben gesagt) und die Melodien ihrer Songs sind mir auch zu simpel. Das ist umso ärgerlicher, als ich die Dubs und Instrumentals (fantastisch: „War Must Cease“) richtig gut finde. Okay, vor allem in der zweiten Hälfte des Albums werden die Songs besser, wie z. B. „Unity“ oder „No Matter“. Da ich aber grundsätzlich keine einzelnen Songs höre, sondern jedes Album (selbst Sampler) als unteilbare Einheit begreife, zerstören mir mehr gerufene als gesungene Songs wie „Jump Up“ oder „Fire“ das Gesamterlebnis zu sehr.
10 Ft. Ganja Plant: 10 Deadly Shots Vol. 2
Streng genommen gehören die 10 Deadly Shots gar nicht auf diese Seite, denn was uns die Band aus New York hier zu Gehör bringt, sind astreine Old-School-Instrumentals, die mit Dub so viel zu tun haben, wie meine gute alte Olympia mit dem MacBook Pro, an dem gerade dieser Text entsteht. Wüsste man es nicht besser, so könnte beim kurzen Hinhören der Eindruck entstehen, ein verschollen geglaubtes Studio One-Tape mit Jackie Mittoo zu hören – was für die Jungs von der Ganja Plantage wahrscheinlich ein Riesenkompliment wäre. Denn sie haben wirklich alles daran gesetzt, den Hörer hinters Licht zu führen. Auf ihrer Website beschreiben sie akribisch, welche analogen Aufnahmeutensilien wann genau zum Einsatz kamen, wie das Aufnahmegerät kalibriert wurde und wahrscheinlich auch, welche Tonband-Marke sie verwendet haben und was vorher auf dem Band gespeichert war (wenn letzteres der Lektor nicht zum Wohle der Leser gestrichen hätte). Doch hören geht über lesen, und was das betrifft, braucht es keine weiteren Erklärungen: Die zehn tödlichen Schüsse (die eher zehn fröhlichen Gummibällen gleichen) machen ebenso so viel Spaß wie die liebevoll mimetischen Retro-Produktionen eines Prince Fatty. Wer sie hört, kommt einfach gut drauf: Das Leben ist schön und alles ist gut. Wer hier jetzt gerne noch eine kritische Reflexion lesen möchte, sollte mal versuchen, im Zustand der glückseligen Verzückung selbst eine zu schreiben. Es ist unmöglich.
»Do The Reggae« im iBook-Store
Mein in Ehren gealtertes Buch „Do The Reggae“ (1995) ist soeben in Apples iBook-Store erschienen. Wer Lust hat, die Geschichte des Reggae am iPad nachzulesen, kann es sich kostenlos herunterladen.
Rico Rodriguez war einer der ersten Reggae-Artists, denen ich in den 1980ern mein Gehör lieh. Sein Album „Man From Wareika“ lief bei mir ohne Pause. Später folgte noch „That Man Is Forward“ – dann verlor ich meinen Helden aus den Augen. Umso mehr staunte ich, als ich ihn jüngs auf einem unscheinbaren Album aus dem Conscious Sounds Studio wiederentdeckte: Ital Horns Meets Bush Chemists Featuring Rico, „History, Mystery, Destiny“ (Roots Temple). Ich würde dieses Album nicht als weltbewegendes Ereignis einstufen, wie einst „Man From Wareika“, aber es ist ein solides und schönes Album, das zu hören wirklich Spaß macht. Geboten wird ein außergewöhnliches Konzept, und zwar ein Instrumental-Shwocase, bei dem jedes Instrumental von einem Dub begleitet wird – insgesamt 19 Tracks! Als Basis der Stücke dient der typische UK-Dub-Sound der Bush Chemists, was zugleich die einzige Schwäche des Albums darstellt. Darüber brillieren die Ital Horns (Saxophon, Posaune, Trompete) in wunderbarer Reggae-Horn-Section-Manier, nämlich unisono, nette kleine Melodie-Phrasen spielend. Soli gibt es natürlich auch, aber stets perfekt eingebettet in den Einklang der Musik. Sorge vor exzentrischen Jazz-Eskapaden ist also gänzlich unbegründet. Überhaupt könnte „Harmonie“ das Motto dieses Albums sein – wenn, ja wenn die Rhythms nicht ganz so stereotype Steppers-Boliden wären. Nicht nur, dass der Sound inzwischen ziemlich in die Tage gekommen ist, sind die digitalen Beats einfach etwas zu wuchtig, ja fast schon brutal, im Verhältnis zu den feinen Bläsern. Handgespielte Rhythms wären hier zweifellos adäquater. Aber wollen wir nicht meckern. Die Freude über ein Album mit so vorzüglicher Blasmusik überwiegt.
Ray Darwin: »People’s Choice«
Hier haben wir ein reines Vocal-Album: „People‘s Choice“ (Irievibrations) – passt also eigentlich gar nicht in diesen Blog. Aber für dieses schöne Werk muss ich einfach eine Ausnahme machen. Gelegentlich kreuzen sie meinen Weg: Alben, die ganz und gar von ihren wunderbaren Songs getragen werden. Ein Dub-Treatment würde sie des größten Teils ihrer Schönheit berauben. Um so ein Album handelt es sich bei dem Debut-Werk von Ray Darwin. 15 große Songs, brillant komponiert und fantastisch produziert. Seien wir ehrlich, die Mehrzahl der Melodien, die der Reggae zu bieten hat (wobei überhaupt nur ein Bruchteil aller Songs mit Recht den Begriff „Melodie“ für sich in Anspruch nehmen kann), sind sehr simpel gestrickt. Nicht so die Songs von Ray Darwin. Sie präsentieren bis ins Detail durchkomponierte, wunderbar eingängige und durchaus komplexe Melodien. Schöne, sanfte Songs sind es, die keineswegs nur Love-Storys zu bieten haben, sondern auch kritisch Stellung zu unserer Lebenswirklichkeit beziehen. Außerdem werden sie – das sei nebenbei dann auch noch erwähnt – von Mr. Darwin mit einer angenehm voluminösen Stimme bravourös dargeboten. Doch die Songs sind nur der halbe Spaß. Die andere Hälfte besteht aus den großartigen Produktionen. Die Rhythms sind perfekt auf den Punkt produziert. Hier stimmt alles: Sound, Timing, Arrangement, Groove. Statt einem durchgängigen Arrangement-Muster zu folgen, basiert jedes Backing auf einer eigenständigen, adäquat umgesetzten Idee. So werden einige Studio One-Klassiker neu interpretiert und mit viel Liebe zum Original frisch intoniert, andere Kompositionen sind hingegen Originale – mit Potential zum Klassiker. Doch was mich fast noch am meisten begeistert ist, dass dieses schöne Album in Deutschland produziert wurde, und zwar in Hamburg als Zusammenarbeit von Ray Darwin und Piet Abele. Da mich Jamaika in den letzten Jahren zunehmend enttäuscht, schöpfe ich jetzt auch für Reggae (beim Dub ist es ja schon selbstverständlich) mit Blick auf Europa neue Hoffnung.