Gute Dub-Alben kreuzen nicht selten meinen Weg. Aber Dub-Alben, die mich regelrecht begeistern, sind eher rar. Hey-O-Hansens „Sonn und Mond“ (Pingipung/Rough Trade) ist so ein Album. Das Cover hat mich zuerst an schräge Noisemucke à la Einstürzende Neubauten denken lassen, doch als die CD schließlich während des Frühstücks im Hintergrund lief, wechselten meine Freundin und ich einen verwunderten Blick, legten die Zeitung beiseite und drehten die Lautstärke hoch. Was für eine abgefahrene Musik! 100% Reggae, aber so gespielt, wie man ihn noch nicht gehört hat. Entfernt erinnert der Sound an Peter Presto (Rezension in Riddim August 2006), also an melodiöse Kompakt-Elektronik. Anders als Prestos Sound, sind die Dubs von Hey-O-Hansen aber merkwürdig vertrackt und doch ganz einfach. So als würde man Reggae auf den falschen Instrumenten spielen – das aber richtig virtuos. Dabei wirken einzelne Klangfolgen disharmonisch und fehlplatziert, nur um anschließend im Zusammenspiel wunderbar geschlossen und eingängig zu sein. So mündet z. B. ein schräges Akkordeon, das über einen warmen, pulsierenden Offbeat spielt, in ein sanft hingehauchtes Chanson, während anschließend detailreiche Lo-Fi-Spielereien die Regie übernehmen. In einem anderen Song hören wir ein schweres, träges Lee Perry-Black-Ark-Sample, das von einer Harfe begleitet wird, die schließlich einer weiblichen Stimme weicht, nur um danach wieder dem Akkordeon Platz zu machen. Jedes Stück ist eine Exkursion in eine faszinierende Sound-Landschaft, in der hinter jedem Hügel und jedem Baum eine Überraschung wartet. Die Linernotes sprechen ganz treffend von „Künstlerischer Widerborstigkeit“. Statt den Genre-Konventionen zu gehorchen, wird hier radikal mit ihnen gebrochen und damit die Tür zu einer ganz neuen Dub-Erfahrung aufgestoßen. Helmut Erler und Michael Wolf heißen die beiden kreativen Köpfe hinter Hey-O-Hansen, stammen aus Österreich, wo sie sich – laut eigener Aussage – vom Offbeat der Tiroler Volksmusik inspirieren ließen, in den 1980 Jahren in einer Rocksteady-Band spielten und Mitte der 1990er Jahre nach Berlin auswanderten. Dort frickeln sie seit nunmehr 14 Jahren im hauseigenen Studio ihre Sound-Eskapaden zusammen, die sie an unterschiedlichsten Stellen in unterschiedlichsten Formaten unter die Hörerschaft bringen. Was auf diese Weise in den Jahren seit 1995 entstanden ist, wird nun erstmals, schön sorgsam zusammengetragen und sortiert, auf einer CD veröffentlicht. Und diese CD – da bin ich mir jetzt schon sicher – wird in meinen Dub-Charts 2009 auf Platz eins landen.
Neil Perch, Mastermind von Zion Train, weist gerne darauf hin, dass sein Album „Live As One“ den Reggae-Grammy 2008 gewonnen hat. Bei genauerem Hinsehen, entpuppt sich der „Reggae-Grammy“, auf den Mr. Zion Train so stolz ist, tatsächlich als ein „Reggae Academy Award“, der in Kingston verliehen wird und nichts mit den US-Grammy-Awards zu tun hat. Trotzdem – wahrscheinlich vom Erfolg euphorisiert –, hat Neil Perch Dub-Akteure aus aller Welt um Remixes der Tracks des Albums gebeten, die nun, auf einer CD versammelt, als Zion Train, „Live As One Remixed“ (Universal Egg) erschienen sind. Die 15 Dubs stammen u. a. aus Italien, den Niederlanden, Brasilien, Frankreich, Kroatien, Griechenland, Polen, Mexiko und natürlich aus England (allerdings kein einziger Mix aus Deutschland!). Die bekanntesten Namen sind Rob Smith, Vibronics, Brain Damage und Weeding Dub. Einige Tracks sind gleich mehrfach vertreten („Boxes And Amps“ gleich vier mal), was es erlaubt, die Mixes miteinander zu vergleichen und damit dem Wesenskern von Dub nachzuspüren. Allerdings bleiben die Remixes dem Tenor des Originals allzu treu. Lediglich De Niro liefert einen wuchtigen Dubstep-Mix von „What A Situation“ ab und Dub Terror verwandelt „Boxes And Amps“ in einen schön nostalgisch anmutenden Jungle-Track.
Ebenfalls aus dem Hause Universal Egg stammt das Album „Dub Terror“ (Universal Egg) von: Dub Terror. Ich muss zugeben, dass die CD schon zwei, drei Monate bei mir herum liegt – was eine gewisse Aussagekraft hat. Mir fällt zu dem in Warschau produzierten Album nicht allzu viel ein. Die Tracks folgen dem klassischen UK-Dub-Schema und flirten gelegentlich mit Dubstep – gewinnen diesem Genre aber keine neuen Perspektiven ab. Eigentlich stimmen die Zutaten, wie gut ausgesuchte Samples, sauberer Sound und sechs gute Gast-Vokalisten, aber das Ergebnis ist nicht wirklich spannend. Es fehlt einfach an guten Kompositionen (wenn man bei Dub überhaupt davon sprechen will).
Aber noch mal zurück zum Thema „Remix“. 1982 nahmen die Punkrocker Ruts CD im damals frisch gegründeten Ariwa Studio von Mad Professor ihr Album „Rhtyhm Collision“ auf, das Punkrock mit Reggae und etwas Funk vermischte. Das Album erhielt nie viel Aufmerksamkeit, wurde jedoch eine Underground-Ikone, die sich bis heute, einschließlich aller Neupressungen und Re-Issues, rund 100.000 mal verkaufte. 2002 nahm sich Neil Perch von Zion Train des Albums an und produzierte ein Dub-Remix des Sets. Heute, wieder einige Jahre später, ist die dritte Generation am Werk: Dekonstruiert, rekonstruiert, frisiert, aufgemöbelt und ausgedubbt von den Bassjüngern dieser Tage, erscheint das Album unter Ruts DC, „Rhythm Collision Re>loaded“ (Echo Beach) jetzt ein weiteres Mal. Fünf der dreizehn Tracks remixte Rob Smith (den wir von Smith & Mighty und den More Rockers kennen), Dreadzone nahm sich zweier Stücke an, ebenso die Kölner Elektronik-Tüftler von Salz und Steve Dub (der Programmierer der Chemical Brothers). Alle Mitmischer am großen Ruts DC-Relaunch gingen den Weg, den African Headcharge einst den „Path Of Respect“ nannte und erhielten weitgehend die Identität des Originals. Obwohl wir es unverkennbar mit Reggae-Dub zu tun haben, bleibt der Sound von Punkrock allgegenwärtig und auch die Stimmen der Ruts stechen immer wieder crisp aus dem Meer an Bass hervor. Eine eigenwillige Mischung von Stilen, die in dieser Form aber perfekt funktioniert.
Unglaubliche 20 Jahre nach dem Album „Dubvision“ schickt der Dubvisionist Felix Wolter unter dem Titel „Dubvision II“ (Perkussion & Elektronik) ein Nachfolgealbum in die Welt hinaus. Versammelt hat er hier „wohlklingende Tracks von Freunden“, die mit ihm im Staccato- und im Time Tools-Studio ihre Aufnahmen machten. Zu diesen Freunden gehören neben The Vision und der Herbman Band auch Gentleman, Tamika & Mamadee und die Far East Band. Vielleicht ist es das Alter, vielleicht auch die Jahrzehnte lange Erfahrung, Felix Wolter entschied sich jedenfalls für ausgesucht relaxte, melodiöse und wunderbar klassisch gespielte Tracks und hat sie in ebenso „wohlklingende“ Dubs verwandelt, zu denen man angenehm grooven kann, die sich aber auch aufmerksam anhören lassen und dann tausende kleine Spielereien und nette Ideen offenbaren. So beginnt z. B. das erste Stück „Andrés Dub“ mit einem schönen, melodiösen Bläsersatz, um dann nach zwei Strophen „in den Mix“ zu gehen, wo sich sanft virtuose Percussions in den Vordergrund spielen, die dann von einer netten Gitarrenmelodie abgelöst werden. Alles ganz selbstverständlich, logisch, folgerichtig. Natürlich hören wir hier keine musikalische Revolution oder Cutting Edge-Dubs an vorderster Front von Dubstep und Elektronik. Wir hören hier „nur“ richtig gutes Handwerk, Sounds mit Seele und Dubs mit Wärme. Und es ist so unglaublich wohltuend, einfach gute Musik zu hören und nicht progressiv und open minded sein zu müssen. Ich wünsche mir jedenfalls ausdrücklich mehr Dub-Works von Felix!
Jetzt kommt auch etwas sehr schönes – und zwar aus der Revival-Selection: King Tubby & The Clancy Eccles All Stars, „Sound System International Dub LP“ (Pressure Sounds). Dieses von Clancy Eccles produzierte Dub-Set ist so unglaublich obskur, dass niemand, „wirklich NIEMAND“ – wie das Presseinfo betont – jemals davon gehört hatte. Als Anfang 2009 eine alte Vinylkopie auftauchte, gerieten die Pressure-Sounds-Geeks völlig aus dem Häuschen, forschten, remasterten und rereleasen die LP nun im Original-Cover mit bisher ungesehenen Fotos von King Tubby (die CD enthält zudem fünf Bonus Tracks). Das Album dokumentiert Eccles damaligen Vorstoß in das Dub-Genre, wozu er zehn von den Dynamics eingespielten Tracks aus den frühen 1970er Jahren von King Tubby remixen ließ. Tubby mixte die Aufnahmen sparsam und transparent, entkleidete sie bis auf Drum & Bass und verzichtete nahezu vollständig auf Vocals. Früher Tubby-Style at it‘s best!
Dass Dub ein inzwischen wahrlich internationaler Stil ist, zeigt sich einmal mehr an dem Album „Like River To Ocean“ (Amaru Music) das von dem irischen Musikerduo Avatar eingespielt wurde und dessen Cover eine japanische Kalligraphie ziert. Hinter Avatar verbergen sich die beiden Instrumentalisten James Kennedy und Tony O‘Flaherty. Beide im Südwesten Irlands geboren und aufgewachsen, lassen sie sich nach eigener Aussage von der Irischen Landschaft, ihrer Schönheit und Einsamkeit inspirieren. Das klare Wasser, die frische Luft und die stoischen Berge bilden eine natürliche Harmonie, in der sich sitzen, kontemplieren und über Dub nachdenken lässt. Daher wundert es nicht, dass Ambient-Sounds wie Wellenrauschen immer wieder in den sehr entspannten Stücken auftaucht. Vor allem sind es die weichen Sounds der Blechbläser, die den Dub der beiden Iren prägt. Aber es gibt auch zwei Stücke, die befremden: „Joyfull Dub“ klingt so, als stamme das Schlagzeug aus dem Rhythmus-Repertoire einer Hammond-Orgel und „Kingdom I Dub“ – eigentlich ein nettes Stück – wird von Lobpreisungen Haile Selassies begleitet. Der Zusammenhang zur irischen Landschaft will sich mir hier nicht erschließen.
Abschließend geben wir uns jetzt noch eine richtige UK-Steppers-Dröhnung – auch wenn die Mucke aus Frankreich kommt: „World Wide Dub“ (Control Tower) von The Dub Machinist. Viel ist nicht von dem Herrn Dub-Maschinisten bekannt – aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Er nimmt seinen Namen ernst. Wie von einem großen, dampfgetriebenen Maschinenkoloss bewegt, stampfen seine Dubs durch Raum und Zeit und lassen Boden und Wände vibrieren. Brutal und minimalistisch. Nichts, aber auch gar nichts an diesen Dubs ist neu oder innovativ – und Ideen gibt es nur eine: Wumms! Aber die vollkommene Konsequenz, mit der diese Idee zu Ende gedacht wird, macht das Album zu einem Erlebnis. In Anlehnung an Heavy Metal lässt sich hier ohne Einschränkungen von puren „Heavy Dub“ sprechen. So etwas braucht man von Zeit zu Zeit, um sich das Trommelfell massieren zu lassen. Ah, das tut gut!
Eine Antwort auf „Dub Evolution Oktober 2009“
„Hey O Hansen“ ist wirklich toll, vielen Dank für den Tipp!