Kategorien
Review

Haris Pilton: Think Dubby

Es gibt Artists, deren Werk so unüberschaubar, wechselhaft und stilistisch zerfasert ist, dass man jedes neue Release zunächst vorsichtig beäugt – ohne zu wissen, ob einen ein Geheimtipp oder ein Schnellschuss erwartet. Haris Pilton gehört für mich genau in diese Kategorie. Sein Output ist enorm, sein Stil bisweilen flatterhaft, seine Veröffentlichungen reichen von charmant bis unverständlich. Doch dann kommt „Think Dubby“ (Montego Bay Records) – und plötzlich ist da ein Album, das sich wie ein ruhender Pol im Pilton-Universum anfühlt. Ein Glanzstück. Vielleicht sogar sein Glanzstück.
Schon der Untertitel macht klar, wohin die Reise geht: „Haris Pilton Tribute to King Tubby“. Und tatsächlich – dieses Album verneigt sich nicht nur vor Tubby, es huldigt ihm geradezu. Hier geht es um Ehrfurcht, um Respekt und darum, ein Kapitel jamaikanischer Musikgeschichte so authentisch wie möglich weiterklingen zu lassen. Der von Pilton verfasste Begleittext zeichnet Tubby als das, was er war: Wissenschaftler am Mischpult, Schöpfer einer musikalischen Sprache, der Mann, der aus Drum & Bass spirituelle Architekturen formte. Pilton knüpft daran an. Nicht nur in der Ästhetik, sondern auch im Anspruch.
Wer auf „Think Dubby“ tatsächlich spielt – oder ob überhaupt jemand spielt – bleibt im Verborgenen. Angesichts Piltons Produktionsgeschwindigkeit liegt der Verdacht nahe, dass hier viel digital entstanden ist. Und doch klingt das Album beeindruckend analog: warm, staubig, historisch. Die Basslines rollen wie aus einer alten Channel-One-Session, die Drums klingen trocken, die Effekte – Delay, Federhall, Filter – könnten direkt aus Tubbys Labor stammen. Es ist fast irritierend, wie sehr diese Tracks nach 1975 riechen. Nicht im Sinne von Nostalgie-Kitsch, sondern wie echte, ehrliche Dub-Arbeit aus der Blütezeit des Genres. Manche der Versionen wirken so tubbysk, dass man sie beim Blindhören für unveröffentlichte King-Tubby-Cuts halten könnte – wenn Tubby damals schon einen so druckvollen Sound hätte mastern können.
Das Album ist stilistisch schlanker, konzentrierter und ernsthafter als vieles, was Pilton sonst veröffentlicht. Keine Experimente, keine Abwege – nur klas­si­scher, geradliniger Dub. Und dieser Fokus tut ihm hörbar gut. Die Rhythms sind großartig: feste Fundamente, tief geerdet, aber elegant. Die Mixe sind sauber, unaufdringlich, aber wirkungsvoll – nicht der Versuch, Effekte zu stapeln, sondern sie gezielt einzusetzen. Genau so, wie Dub im Kern gedacht war: als Kunst des Weglassens und der Betonung. Die Produktion bleibt trotz der Retro-Orientierung klar, druckvoll und gut ausbalanciert. Es ist ein Album, das Spaß macht, ohne anbiedernd zu sein. Ein Album, das man hören kann, ohne ständig darüber nachzudenken, wie es gemacht wurde – und gleichzeitig genau dafür Respekt empfindet, dass es so klingt. Für mich ist „Thing Dubby“ eines der schönsten Werke von Haris Pilton: ausgewogen, fokussiert, geschmackssicher und klanglich erstaunlich authentisch. Ein Album, das man in Ruhe durchhören kann, das aber auch sofort im Bauch landet, wenn man es laut über gute Boxen laufen lässt. Ja, „Think Dubby“ klingt wie eine Postkarte an King Tubby, geschrieben mit Respekt und voller Liebe zu den Wurzeln des Dub.

Bewertung: 4.5 von 5.

Kategorien
Five Star Review

Soul Sugar Meets Dub Shepherds: Blue House Rockin‘

Was für ein herrlich geerdetes Album! „Blue House Rockin’“ von Soul Sugar meets Dub Shepherds (GEE Recordings) ist für mich weit mehr als ein weiteres schönes Herbst-Release – es ist eines dieser Werke, von dem man schon vor dem ersten Ton weiß: Das wird gut! Hier steckt Leidenschaft drin. Wärme. Hingabe. Können. Und vor allem: echtes Handwerk. Während so vieles heute glattgebügelt algorithmisch weichgespült klingt, kommt dieses Album als Gegenentwurf daher – einer, der sich nicht nur hören lässt, sondern der sich auch absolut richtig anfühlt.
Die Kombination aus Soul Sugar (Guillaume Metenier) und den Dub Shepherds (Jolly Joseph, Dr. Charty, Jahno) wirkt wie ein glücklicher Zufall der Musikgeschichte. Alle vier teilen diese tiefe Zuneigung zu analoger Klangwelt und jamaikanischem Studiogeist. Allein die Produktionsweise ist schon eine Hommage an die goldenen Zeiten: zwei Tage live eingespielt im Blue House Studio, Röhren- und Bändchenmikros aus den 50ern und 60ern, direkt aufs 24-Spur-Tape, später analog gemischt bei Bat Records. Kein künstlicher Bombast, keine digitale Luftpolsterfolie – sondern Musik, pure & direct. Jeder Ton hat Sinn, jede Pause Bedeutung, jedes Echo eine Funktion.
Dass das Album stilistisch nicht in einer Schublade steckt, sondern ganz selbstverständlich zwischen Roots Reggae, Soul, Funk und Dub wandert, macht es so reizvoll. Gleich zum Auftakt: Curtis Mayfields „Give Me Your Love“. Ein leises Statement. Soulig, warm, mit Jolly Josephs Falsett, das perfekt über dem Groove liegt. Ähnlich berührend: Aaron Frazers „My God Has a Telephone“ – hier in einem Reggae-Gewand, das die Seele des Originals bewahrt und gleichzeitig eine völlig neue Farbe hinzufügt. „Hold My Hand“ – während der Session entstanden – fügt sich so natürlich ins Gesamtbild ein, als hätte der Song immer schon existiert. Ein Hauch Lovers Rock, aber ohne Kitsch, dafür mit Gefühl und viel Wärme. Und dann: „Family Affair“. Shniece McMenamin verwandelt den Track in einen vibrierenden Reggae-Hybrid voller Haltung und Soul. Ein Highlight.
Guillaume Metenier an der Hammond-Orgel – das ist ohnehin schon fast eine Garantie für Magie. So auch hier: Die Instrumentals „Disco Jack“, „Choice of Music“ und „Drum Song“ verneigen sich tief vor Jackie Mittoo, und das nicht nur formal. Sie grooven, sie schweben, sie leben – und zeigen, wie viel Seele in Instrumentals steckt, wenn sie mit Talent und Leidenschaft gespielt werden. Und als letzter Gruß aus dem Studio: „Blue House Rock“. Eine spontane Jam, roh, funky, durchzogen vom Geiste Studio Ones. Ein kleines Wunder zum Schluss.
Warum das alles so gut funktioniert? Weil es ehrlich ist. Weil dieses Album nicht versucht, etwas zu sein – sondern einfach ein selbstbewusst Statement ist. Keine Retro-Show, sondern eine echte Verbeugung vor musikalischen Wurzeln. Analoge Produktion, aber keine verstaubte Nostalgie. Blue House Rockin’ berührt mich wirklich, weil es einfach richtig schöne Musik im klassischen Sinne ist. So klangen meine Reggae-Alben, als ich anfing diese Musik zu lieben. Ich glaube, diese Erinnerungen erfüllt mich mit viel nostalgischer Sentimentalität, die es mir unmöglich macht, hier wirklich objektiv zu urteilen. Klar ist jedenfalls: Für mich ist „Blue House Rockin’“ eines der besten Releases von 2025.

Bewertung: 5 von 5.

Kategorien
Interview

Interview mit Zion Train

Zwischen Bass und Bewusstsein – ein Gespräch mit Neil Perch von Zion Train

Seit über drei Jahrzehnten prägt der Produzent und Aktivist mit seinem Projekt Zion Train die europäische Dub-Szene – und denkt sie gleichzeitig neu. Sein aktuelles Album „Dubs of Perception“ ist mehr als eine musikalische Veröffentlichung: Es ist eine Einladung, tiefer zu hören, genauer hinzusehen und über den Tellerrand genretypischer Reiz-Reaktionsmuster hinauszudenken.

Wenn Neil Perch, Mastermind hinter Zion Train, ein neues Album vorlegt, dann ist das nie bloß ein musikalisches Ereignis. Es ist eine Einladung zum Nachdenken, ein Statement, ein Soundtrack zur politischen Auseinandersetzung. Sein aktuelles Werk „Dubs of Perception“ bildet da keine Ausnahme – im Gegenteil: Es steht exemplarisch für ein künstlerisches Selbstverständnis, das Dub-Musik als kulturellen, sozialen und geistigen Resonanzraum begreift.
„Ich habe mich im Dub-Bereich zuletzt zunehmend gelangweilt“, sagt Perch mit jener unverblümten Klarheit, die ihn auszeichnet. „Früher war Dub aufregend, experimentell, technologisch vorn – heute klingt vieles nach Schema F. Jeder will diesen einen Stepper bauen, der auf dem Sound System explodiert. Das interessiert mich nicht.“ Was ihn interessiert, ist Eigenständigkeit. Echtheit. Klangliche Identität. „Ich liebe es, wenn jede Künstlerin und jeder Künstler den eigenen Ausdruck findet – nicht, um zu gefallen, sondern weil man sich selbst etwas zu sagen hat.“

Für „Dubs of Perception“ kehrte Neil Perch zurück zu den Wurzeln seiner Produktionsweise – zu analogem Live-Mixing. „Ich habe ein 32-Kanal-TAC Scorpion-Pult im Studio – über 40 Jahre alt, aber liebevoll überholt. Ein Gerät, das in Jamaika viel verwendet wurde – unter anderem bei Mikey Bennett im Music Works Studio.“ Die Entscheidung für das analoge Setup war nicht nostalgisch, sondern eine bewusste Abkehr vom Übermaß an digitalen Möglichkeiten: „Ich hatte einfach genug davon, alles im Rechner zu machen. Ich wollte zurück zu einer Arbeitsweise, in der Überraschung und Spontaneität möglich sind.“ Spontaneität, das meint bei ihm nicht Chaos, sondern musikalische Intuition. „Wenn ich analog mische, ist alles impulsiv. Ich richte die Effekte ein, drücke Play – und dann fließt es. Ich folge dem Vibe. Ich kann nichts planen. Und genau das liebe ich. Ich überrasche mich dabei selbst.“

„Für mich ist Dub nicht einfach eine Stilrichtung – es ist eine Herangehensweise an Musik“, sagt er und lehnt sich nachdenklich zurück. „Ich sehe das Mischpult als Instrument. Wenn ich live dubbe – und damit meine ich das Mischen in Echtzeit im Studio, auf dem analogen Mischpult –, dann ist das ein performativer Akt. Ich spiele das Mischpult wie andere ein Schlagzeug oder eine Gitarre.“ Die Arbeit mit dem TAC Scorpion ist für ihn ein bewusster Gegenentwurf zur computergesteuerten Produktion. „Ich könnte alles automatisieren, Filterkurven vorausplanen, die Effekte perfektionieren. Aber das ist nicht mein Weg. Ich will im Moment entscheiden – mit den Händen, dem Ohr, dem Bauch. Ich will, dass der Mix atmet.“

Diese Herangehensweise zieht sich durch das gesamte Album. „Ich bereite vieles vor: Spuren, Effekte, Routings. Aber sobald ich Play drücke, ist alles offen. Ich habe eine Idee, aber keine Kontrolle. Und genau das liebe ich. Ich will, dass etwas Unerwartetes passiert. Wenn ich beim Dubben selbst überrascht werde, ist das ein gutes Zeichen. Das liebe ich – diese Spannung zwischen Routine und Zufall.“
Beim Dubben ist er in Bewegung. „Ich greife zu den Fadern, drehe die Aux-Sends, schiebe Delay-Trails auf und ab, ziehe den Bass raus, dann wieder rein. Das ist körperlich. Und es hat mit Präsenz zu tun – ich bin voll da, in diesem Moment, in diesem Klang.“

Er lacht kurz: „Viele halten Studioarbeit für steril. Aber das ist Unsinn. Wenn ich einen Dub mixe, bin ich genauso emotional involviert wie auf der Bühne. Vielleicht sogar mehr. Der Unterschied ist nur: Es schaut mir niemand dabei zu.“ Und dann wird er wieder ernst: „In einer Welt, die immer stärker auf Kontrolle, Präzision und Wiederholbarkeit setzt, ist diese Form des Arbeitens ein Statement. Ich lasse Raum für Fehler, für Unschärfe, für Instinkt. Für das Menschliche. Ich glaube, das ist ein Grund, warum viele digitale Produktionen so leblos klingen – weil sie zu glatt sind. Ich will keine Perfektion. Ich will Wahrheit im Klang.“ Ein weiterer neuer, alter Klanggeber ist die TB-303, jene sagenumwobene Acid-Machine von Roland. „Ich habe ein modernes analoges Modell im Studio – dieser Sound ist wieder da, nicht nur wegen der Nostalgie, sondern weil ich diese Art von Klang einfach spannend finde.“

Doch so sehr er über Ästhetik und Produktionsweisen spricht – sein eigentliches Anliegen geht weit darüber hinaus. Die Musik von Zion Train ist durchzogen von Philosophie, Kulturgeschichte und politischem Bewusstsein. Jeder Songtitel, jeder Albumname ist ein Verweis, eine Einladung zum Weiterdenken. „Dubs of Perception bezieht sich direkt auf Aldous Huxleys The Doors of Perception. Es geht um Wahrnehmung, Bewusstsein – um das, was wir sehen, wenn wir die Perspektive verändern.“ Der Track „Cosmic Serpent“ verweist auf Jeremy Narbys Buch über Schamanismus, Ethnografie und Psychopharmakologie. Und „Népantla“ greift ein Konzept aus der Nahuatl-Kultur auf: „Es bezeichnet den Zwischenraum – zwischen zwei Kulturen, zwei Identitäten, zwei Realitäten. Das ist ein zentraler Begriff für mein Leben. Ich bin ein brauner Mann, geboren in England, lebend in Deutschland, mit karibischen Wurzeln. Ich existiere in diesem Dazwischen.“

Diese Idee prägt auch seine Musik: Sie ist nicht Reggae, nicht Techno, nicht Dubstep, nicht Ambient – und doch durchdrungen von all dem. Musik in Bewegung. Hybrid, aber nie beliebig. Was er dabei radikal ablehnt, ist das Kopieren. „Ich lasse mich inspirieren – vom Vogelgesang genauso wie von Techno. Aber ich kopiere nicht. Plagiarismus ist ein Verbrechen gegen die Kunst. Selbst wenn nur zwei Leute mein Stück mögen – wenn ich es selbst liebe, ist es ein Erfolg.“

Seit jeher tourt Zion Train mit eigenem Sound System – auch wenn das heute seltener wird. „2002 habe ich mein System nach Deutschland gebracht. Damals gab es nur wenige Anlagen mit richtigem Druck. Heute gibt es Sound Systems in jeder Stadt, von Polen bis Spanien, von Norwegen bis Sizilien.“
Doch der Erfolg des Movement bringt auch Schatten: „Mit der Verbreitung kam die Uniformität. Zu viele Tracks klingen gleich. Ich mag keine Musik, die auf Effekt gebürstet ist. Ich will Emotion, Tiefe – keine Drops fürs kollektive Durchdrehen.“

Emotion und Tiefe – beides findet sich reichlich auf „Dubs of Perception“. Auch, weil Perch Musik nie von Politik trennt. „Alles, was ich tue, ist politisch. Ob ich Fahrrad fahre oder Auto. Ob ich Bio kaufe oder Billigfleisch. Ob ich Nachrichten bei ARD oder bei Al Jazeera schaue – alles sind politische Entscheidungen.“ Er bezieht Stellung. Nicht mit Slogans, sondern durch Haltung. „Ich bin Antikapitalist. Anarchist im Sinne von selbstorganisierter Gesellschaft. Ich glaube, dass Menschen sich um ihre Gemeinschaften kümmern können – wie es die Black Panthers in den 1970er-Jahren getan haben: kostenlose Frühstücke, Alphabetisierung, medizinische Versorgung. Nicht, weil der Staat es sagt, sondern weil es nötig ist.“ Dabei schreckt er auch vor unbequemen Aussagen nicht zurück. „Es gibt Dinge, über die man in Deutschland kaum sprechen darf – zum Beispiel die israelische Politik. Wenn ich sage, dass es Unrecht ist, Kinder in Gaza zu bombardieren, werde ich als Antisemit diffamiert. Aber das ist falsch. Ich kann für die Existenz Israels sein – und trotzdem gegen Kriegsverbrechen. Ich kann jüdische Menschen schätzen – und trotzdem gegen Kolonialismus sein.“

Die gesellschaftliche Analyse, die er liefert, ist messerscharf: „Das Problem ist nicht Migration. Das Problem ist Kapitalismus. Die Dörfer veröden, der Nahverkehr stirbt, Menschen sind überfordert – und man gibt Migranten die Schuld.“ Dabei brauche Deutschland Zuwanderung: „Jährlich 400.000 Menschen, sonst bricht das System zusammen. Aber was fehlt, ist eine kluge, empathische Integrationspolitik. Die Angst der 70-jährigen Dorfdeutschen ist genauso real wie die Verzweiflung des 22-jährigen Syrers. Beide brauchen eine Bühne für ihre Stimme. Aber statt Gespräch gibt es Parolen.“ Er plädiert für offene, vorurteilsfreie Debatten. Für mehr Zuhören. Für mehr Mut, unbequeme Fragen zu stellen. Und eine neue Wertschätzung für das, was wirklich zählt: „Es kann nicht sein, dass der Mann, der Rheinmetall-Aktien kauft, mehr Anerkennung bekommt als die Frau, die Kinder im Kindergarten betreut. Das ist krank.“

Ein weiterer Einflussfaktor in seinem Leben: die Vaterschaft. „Früher war ich fünf Tage die Woche im Studio. Heute verbringe ich weniger Zeit dort – aber viel intensiver. Ich entwickle Ideen im Kopf, bringe sie gezielt ins Studio, arbeite effizienter.“ Doch die Rolle als Vater beeinflusst nicht nur den Alltag, sondern auch das Herz. „Es gibt Tracks, bei denen ich beim Hören weine. Ich weiß nicht warum – aber es überkommt mich. Die einzige andere Sache im Leben, die solche Gefühle in mir auslöst, ist die Liebe zu meinen Kindern.“

Für Perch ist Musik kein Konsumgut, sondern Medizin. „Musik ist Magie. Sie heilt. Sie verbindet. Sie gehört uns allen. Und wenn sie zur Ware degradiert wird – durch Plattformen wie Spotify oder durch KI-generierte Songs –, dann wird diese Magie missbraucht.“ Dabei ist ihm bewusst, dass die Realität dieser Kommerzialisierung nicht aufzuhalten ist. „Spotify ist ein geniales System – aber in den Händen eines Kapitalisten, Daniel Ek, der sich für nichts außer Profit interessiert. Ich höre privat kein Spotify. Ich will diesem Mann keinen Cent geben.“

Was bleibt nach zwei Stunden Gespräch mit Neil Perch, ist das Bild eines Künstlers mit Haltung. Eines Menschen, der sich nicht abfindet mit der Welt, wie sie ist. Der Musik macht, nicht um zu flüchten, sondern um zu kämpfen. Gegen Lethargie. Gegen Beliebigkeit. Für Bewusstsein, Empathie und Veränderung. Sein Dub ist kein Echo der Vergangenheit. Er ist ein akustisches Zukunftsmanifest.

Kategorien
Review

Adrian Sherwood: The Collapse of Everything

Was für ein dystopischer Titel: „The Collapse of Everything“ (On-U Sound). Adrian Sherwood hat sein neues Solowerk so benannt und legt damit nach 13 Jahren ein Album vor, das seinem Titel in beinahe brutaler Konsequenz gerecht wird. Wer Dub erwartet – und bei Sherwood ist das schließlich nicht unberechtigt – wird sich erst einmal die Ohren reiben. Der Klangkosmos, den das On-U-Sound-Mastermind hier entwirft, ist weit von allem entfernt, was gemeinhin als „Dub“ bezeichnet wird. Und doch ist es genau das: Dub im Geiste. Dub als Haltung. Dub als Methode des Zerschlagens und Neuordnens.
Schon „Survival & Resistance“ zeigte 2012 deutlich, dass Sherwood mit seinen Solowerken eigene Wege geht. The „Collapse of Everything“ aber verlässt endgültig die vertrauten Pfade. Was bleibt, ist die dekonstruktivistische Produktionsweise: Schichten aus Live-Recordings, Effekten, Fragmenten und Rhythmen, die sich nicht um Groove kümmern, sondern um Atmosphäre, Kontrast, Bruch. Der Klang ist häufig schräg, streckenweise gar atonal, manchmal fast abweisend. Sherwood scheint hier nicht gefallen zu wollen, sondern liefert vielmehr ein düsteres Poem über Verlust, Vergänglichkeit und Widerstand.
Der Tod zweier enger Freunde – Mark Stewart und Keith LeBlanc – hat das Album mitgeprägt. Es ist nicht sentimental geworden, aber durchzogen von einem leisen, schroffen Respekt für das Unvermeidliche. In Tracks wie dem titelgebenden „The Collapse of Everything“ schwebt ein Gefühl von Desillusionierung durch die weitläufigen Soundscapes, unterlegt mit Percussions, dissonanten Pads und immer wieder auftauchenden, kaum greifbaren Melodiefragmenten. Der Widescreen-Sound wirkt wie Filmmusik – aber nicht die eines Blockbusters, sondern die eines dystopischen Arthaus-Films. Tarkowski trifft Technoir.
Sherwood wäre nicht Sherwood, wenn er sich auf seine eigene Genialität verlassen würde. Er umgibt sich, wie eh und je, mit einer exquisiten Besetzung: Doug Wimbish sorgt für die tiefen Frequenzen, Ivan „Celloman“ Hussey steuert Streicher bei, Mark Bandola an der Gitarre, Chris Joyce am Schlagzeug – eine illustre Runde, mit der Sherwood seine experimentellen Ideen in organische Formen gießt. Die Holzbläser und Keys von Alex White verleihen dem Sound zusätzliche Tiefe, manchmal fast jazzartige Weite. Es sind diese subtilen Beiträge, die verhindern, dass „The Collapse of Everything“ in bloßer Düsternis versinkt. Stattdessen schimmert da etwas – kein Licht, aber ein Bewusstsein. „Ich versuche nicht, irgendjemandem außer mir selbst zu gefallen“, sagt Sherwood über das Album. Diese Haltung prägt jeden Takt. Der Dub-Gedanke ist nicht musikalisch, sondern strukturell: Dinge aufbrechen, neu zusammensetzen, Bedeutungen verschieben. Wie in einem musikalischen Palimpsest überlagern sich Sounds, Erinnerungen, Referenzen. Wer genau hinhört, entdeckt die Spuren von On-U Sound, von „Becoming A Cliché“, von Lee Perry und Bim Sherman – aber alles durch den Filter einer dissonant-dystopischen Klangästhetik gezogen.
Dass Sherwood in den letzten Jahren für Artists wie Spoon, Panda Bear oder Halsey arbeitete, merkt man: Er die Sprache des Indie, des Pop, des Avantgarde-Electronica ist ihm sehr geläufig. Doch er benutzt sie nicht, um anschlussfähig zu sein. Im Gegenteil: The „Collapse of Everything“ ist eine Absage an Zugänglichkeit. Es ist radikal, subjektiv, fast hermetisch – und darin konsequent.
The „Collapse of Everything“ ist definitiv kein Album für Dubheads auf der Suche nach einem Bass-Upgrade. Es ist ein Statement. Ein forderndes, widerspenstiges, sperriges Stück Musik, das sich jeglicher Funktion verweigert. Man könnte sagen: Adrian Sherwood hat den Dub zur freien Kunst erhoben – befreit von jeder funktionalen Bestimmung. Wer hören will, wie Dub klingen kann, wenn er sich von seinen Wurzeln löst, davon im Sound System oder auf dem Dancefloor funktionieren zu müssen, von jeglichen Publikumserwartungen und überhaupt von allem, was wir an Dub so lieben – und dabei doch irgendwie Dub bleibt, findet hier ein faszinierendes, vielschichtiges, ungemütliches Werk.

Bewertung: 4 von 5.

Kategorien
Review

King Size Dub – Hamburg

Manchmal, wenn im Hafen der Nebel hängt und ein dumpfer Bass aus dem Inneren eines Clubs durch die Speicherstadt wabert, glaubt man ihn hören zu können – den Nachhall jenes fiktiven Traumstrandes, von dem Martha & The Muffins 1980 in ihrem Song „Echo Beach“ sangen. Was einst bloß eine Metapher war, hat sich längst verortet: Der Echo Beach liegt in Hamburg. Hier nämlich, am Elbufer, gründete Nicolai Beverungen 1995 ein Label, das seither wie kein zweites den Dub-Sound hierzulande verbreitet, erweitert und erforscht hat. Zum 30-jährigen Bestehen kehrt das Label nun mit der Compilation „King Size Dub – Hamburg“ (Echo Beach) zu seinen Ursprüngen zurück – und zeigt eindrucksvoll, dass Dub in dieser Stadt mehr ist als ein Stil: Es ist Soundtrack, Haltung, Geschichte.
Als Echo Beach 1995 mit der ersten King Size Dub-Compilation auftrat, war das ein Statement. Während sich der UK-Dub in kleinen Soundsystem-Communities verfestigte, übersetzte Nicolai den Sound für ein kontinentales Publikum und ließ seine eigene Punk-Vergangenheit einfließen. Schnell folgten Compilations aus Neuseeland, Südafrika, Italien, Jamaika und den USA, dazu Reissues und Neuinterpretationen, die Dub mit Dance, Punk, Minimal und Pop in Verbindung brachten. Der Labelkatalog wurde zum offenen Archiv des globalen Dub-Geschehens – ohne dabei den Blick für die lokale Szene zu verlieren.
Denn Hamburg war von Anfang an Teil dieser Bewegung: Mit Formationen wie Dub Me Ruff, Dub Division, Di Iries und Arfmanns Projekten (Turtle Bay Country Club, Kastrierte Philosophen) gab es schon in den 90ern eine vitale Szene, die nicht jamaikanische oder britischen Dub kopierte, sondern weiterdachte. Genau hier setzt „King Size Dub – Hamburg“ an – und führt all diese Fäden in einem dichten, 33 Tracks starken Kompendium zusammen.
Diese Compilation ist dabei keine simple Rückschau. Sie dokumentiert nicht nur, sie kuratiert, aktualisiert, verknüpft.
Der Opener – ein hypnotischer Disco-Dub von Station 17, gemixt von DJ Koze – zeigt exemplarisch, wie der klassische Dub-Ansatz (Reduktion, Raum, Rhythmus) auf aktuelle Produktionsweisen trifft. Dass sich Udo Lindenberg und Jan Delay auf der Reeperbahn begegnen (aber nur auf der Vinyl-LP), ist mehr als ein Marketing-Gag: Es ist eine Reminiszenz an das popkulturelle Selbstverständnis der Stadt – aufgelöst in Echo und Hall durch Guido Craviero, den Live-Soundmagier von Seeed und Peter Fox. Matthias Arfmann, einer der Gründerväter des deutschen Dub, tritt gemeinsam mit seinem Sohn Chassy auf. Es ist eine schöne Analogie: Wie das Label Echo Beach musikalische Generationen verbindet, so tun es auch seine Protagonisten. Lee „Scratch“ Perry ist ebenso vertreten wie Elbtonal Percussion, deren Max-Romeo-Cover in Zusammenarbeit mit Prottassov avantgardistisch über den Tellerrand schaut. Auch das Politische hat Platz: TC Sunshines Agit-Dub über Nikel Pallats legendären Auftritt bei einer TV-Talkshow 1971 (bei dem ein Tisch zu Bruch ging) klingt wie ein Stück akustischer Erinnerungskultur. Knarf Rellöm Arkestra prangert in „Die Mieten sind zu hoch“ die soziale Realität vieler Großstädte an – und wird von Dub Spencer & Trance Hill aus der Schweiz kongenial in Dub übersetzt. Hier verbinden sich Musik und Milieu zu einem urbanen Klangbild, das weit über Hamburg hinausweist.
Hamburgs Szene lebt nicht nur von ihren Soundsystems, sondern von der Durchlässigkeit der Genres. Das macht sich besonders auf dieser Compilation bemerkbar: Heinz Strunk bringt mit „Black Jets Dub“ Pubertät auf den Punkt, Jacques Palminger & Kings of Dubrock gendern Chaka Khan mit hanseatischer Lässigkeit. Prince Istari und Legoluft liefern Dub in der Tradition des DIY-Geists, und mit Kein Hass Da (die Bad Brains auf Deutsch covern) schließt sich ein Kreis zwischen Punk, Dub und Subversion. Auch Größen wie Deichkind, Erobique, Sam Ragga Band, Fettes Brot oder die Goldenen Zitronen sind vertreten – nicht als Stars, sondern als Teil eines Kollektivs, das die Vielfalt dieser Szene ausmacht. Es ist der Sound einer Stadt, die sich nie festlegen ließ – schon gar nicht in musikalischer Hinsicht.
Was „King Size Dub – Hamburg“ so schön macht, ist die Symbiose aus Rückblick und Vision. Sie zeigt, wofür Echo Beach seit 1995 steht: für das ständige Re-Kontextualisieren eines Genres, das seine Stärke gerade in der Experimentierfreudigkeit findet. Das Label hat Dub nicht nur importiert, sondern geprägt, adaptiert, geformt – bis hin zu den gefeierten Tributes an The Clash, David Bowie, Kraftwerk oder Grace Jones und die Ramones. Die Stadt, in der das alles begann, bekommt mit diesem Album ihre Dub-Hommage – rau, verspielt, tief, durchzogen von Spuren, Stimmen und Geschichten. Hamburg ist nicht nur Kulisse, sondern Klangquelle. Und Echo Beach bleibt das Leuchtfeuer am Horizont.

Bewertung: 4 von 5.

Kategorien
Review

Tor.Ma in Dub: Full Circle

Mit „Full Circle“ (Dubmission) präsentiert Tor.Ma in Dub ein Werk, das gleichermaßen kompromisslos wie konzentriert wirkt – und das vor allem durch seinen Einstieg eine unerwartete Wucht entfaltet. Die ersten beiden Tracks, „Lights On“ und „Earth Calling“, markieren einen radikalen Moment im Schaffen des mexikanischen Produzenten: zwei gnadenlose Steppers-Monolithen, die mit dem verspielten Psydub-Image, das ihm oft zugeschrieben wird, nichts mehr zu tun haben. Hier ist kein Platz für flirrende Klangteppiche oder sphärische Spielereien – was sich stattdessen entlädt, ist reine Soundsystem-Energie. Die Bassdrum marschiert mit fast brutaler Geradlinigkeit durch die Tracks, stoisch und unnachgiebig, während ein unmodulierter, tiefschwarzer Subbass den Raum füllt und die Magengruben erschüttert. Es sind diese zwei Stücke, die das Potenzial haben, auf jeder Dub-Session für kollektives Kopfnicken und eine Reihe von Rewinds zu sorgen. Kein überflüssiger Effekt, kein ornamentales Beiwerk – nur Groove, Druck und ein fast technoider Minimalismus, der an frühe UK-Steppers erinnert, aber mit einer düster-digitalen Kante versehen ist, wie man sie aus dem Dunstkreis von Alpha & Omega kennt.
Im weiteren Verlauf der EP kehrt Tor.Ma in Dub dann zurück zu vertrauterem Terrain. Die restlichen drei Stücke öffnen sich atmosphärisch, werden sanfter, lassen Raum für esoterisch angehauchte Melodien und psychedelisch schillernde Klangtexturen. Hier klingt wieder durch, was Produzent Hernández in Interviews als seinen kreativen Ursprung beschreibt: eine Affinität zu inneren Klangräumen, zu meditativen Zuständen, zu bewusstseinserweiterndem Sounddesign. Doch auch in diesen Tracks bleibt der Rhythmus klar und geerdet – das Spiel mit Raum und Frequenz bleibt stets im Dienst des Dub.
„Full Circle“ ist mehr als nur eine weitere EP im Katalog von Tor.Ma in Dub – es ist ein markanter Einschnitt, ein bewusst gesetzter Akzent. Die unbändige Energie der ersten beiden Tracks wirkt wie ein Paukenschlag, der den Künstler in einem neuen Licht zeigt: roh, direkt, auf das Wesentliche reduziert. Ohne Schnörkel, ohne Rückversicherung, mit maximalem Nachdruck. Was danach folgt, ist kein Abflauen, sondern ein gezielter Perspektivwechsel. Die restlichen Stücke öffnen andere Türen, lassen Raum für Tiefe und Kontemplation, für die verträumte, schwebende Seite, die man mit Tor.Ma in Dub bislang vorrangig assoziierte. Doch gerade im Kontrast zu den brachialen Eröffnungsnummern gewinnen auch diese leiseren Töne an Schärfe. So gelingt es „Full Circle“, zwei Pole zu vereinen – Druck und Weite, Körper und Geist – und daraus ein geschlossenes, spannungsgeladenes Werk zu formen.

Bewertung: 4 von 5.

Kategorien
Review

Dennis Bovell: Wise Music in Dub

Dennis Bovell meldet sich mit „Wise Music in Dub“ (Wise Records) zurück und liefert ein Dub-Album, das nicht nur seine jahrzehntelange Erfahrung widerspiegelt, sondern auch seine Vorliebe für echte Songs und prägnante Melodien. Zum 72. Geburtstag schenkt er sich – und uns – eine Sammlung von elf Dub-Versionen, die von Soul-Vorlagen über Doo-Wop bis hin zu Protestsongs reichen – allesamt von einem Klang geprägt, der optimistisch, sonnendurchflutet und heiter daherkommt. Ganz untypisch für Dub: frei von Schwere und Düsternis. Bovell hat sich dabei ein beeindruckendes Ensemble ins Studio geholt – von Papa Dee über Brinsley Forde bis hin zu Carroll Thompson – und genau die Stücke bearbeitet, auf die er selbst Lust hatte. Dass er sich dabei keinen Deut um aktuelle Dub-Trends schert, ist das größte Kompliment, das man dem Album machen kann. Sein Ansatz hat einen redlichen Old School-Charme: Bovell spielt Reggae so, als hätte es die letzten 40 Jahre schlicht nicht gegeben. Kein Modular-Gefrickel, keine futuristischen Effekte, kein typisches Dub-Mixing – sondern handgemachte Rhythmen, bekannte Melodien, viel Gesang und viel Herzblut. Gerade deshalb wirkt das Album so glaubwürdig: „Wise Music In Dub“ klingt nicht nach einem nostalgischen Rückgriff, sondern nach einem Mann, der sich nicht verstellen muss. Der macht, was ihm Spaß macht, was ihn grooven lässt – und was ihn vermutlich auch an die guten alten Zeiten erinnert, als Reggae im UK noch angesagt war – und er mittendrin im Geschehen.
Nicht jeder Track zündet gleichermaßen – „You’re A Big Girl Now“ etwa driftet gefährlich nah an den Kitschrand –, aber gerade diese Unebenheiten verleihen dem Album Charakter. Am stärksten ist Bovell, wenn er auf seine ureigene Handschrift vertraut: Wenn Carroll Thompson über die Dub-Version von Les Fleurs schwebt, wenn Swizz the Panist die Steel Pans zum Glühen bringt oder wenn ein einfacher Offbeat plötzlich zur Zeitmaschine wird. „Wise Music In Dub“ ist ein musikalischer Spaziergang durch Bovells Kopf und Herz.

Bewertung: 3.5 von 5.

Kategorien
Review

J. Robinson (WhoDemSound): Dubplates Volume 1

Ich höre die Musik von J. Robinson seit Jahren. Releases auf WhoDemSound, diverse Dubplates, immer wieder taucht sein Name auf. Und trotzdem: Ich weiß nichts über ihn. Keine Bio, kein Interview, kein Gesicht, keine Anekdote. Auch das Internet – sonst zuverlässig auskunftsfreudig – bleibt stumm. Keine brauchbaren Informationen. Keine Hinweise. Keine Geschichte. Das ist unbefriedigend, aber vielleicht auch konsequent. Also bleibt nur die Musik.
Und die, muss ich zugeben, läuft bei mir gerade ziemlich oft. Genauer gesagt: „Dubplates Volume 1“ (Whodemsound). Ein Album, das keinerlei Überraschungen bereithält. Keine stilistischen Experimente, keine neuen Produktionsideen, keine markanten Sound-Details. Digitaler UK-Dub, wie man ihn kennt. Warm. Gleichförmig. Funktional. Und trotzdem höre ich es ständig. Ich klicke auf Play. Immer wieder. Ich höre es laut. Nicht aus analytischem Interesse, nicht aus Neugier. Sondern weil es einfach da ist. Weil es läuft. Und weil es gut läuft.
Was mich dabei irritiert: Ich halte mich eigentlich für einen offenen, suchenden Hörer. Ich mag Experimente. Ich schätze Ungewöhnliches. Ich finde Gefallen an Brüchen. Aber hier ist nichts davon. Und ich genieße es trotzdem. Denn dieser Dub – so glatt, so unspektakulär, so stoisch – trifft etwas in mir, das ich sonst gern ignoriere: mein Bedürfnis nach Kontinuität. Nach Wiederholung. Nach Sound, der sich nicht aufdrängt, sondern einfach bleibt. Ich höre also nicht genau hin. Ich analysiere nichts. Ich lasse laufen. Und werde ruhig. Der Bass ist da, tief und weich. Die Percussions klackern vor sich hin, polyrhythmisch, aber nie hektisch. Die Offbeat-Chops kommen, wie sie kommen müssen. Keine Überraschung. Keine Variation. Und doch: Atmosphäre. Viel Atmosphäre. Wenn ich darüber nachdenke, würde ich vielleicht genau diese Tracks auflegen, wenn mich jemand fragt, was Dub eigentlich ist. Ich würde keinen herausragenden Klassiker spielen, auch keinen experimentellen Dub am Rande des Genres. Sondern J. Robinson: Dub als Zustand. „Dubplates Volume 1“ ist also kein Album, das erklärt werden will. Es will gespielt werden. Und dann noch mal. Und dann wieder. Vielleicht ist das seine größte Qualität. Und vielleicht erklärt sich J. Robinson damit besser als jede Bio es könnte.

Bewertung: 4 von 5.
Kategorien
Review

Dub Healer: Raw & Remixed

„Raw & Remixed“ (Reverb & Delay) von Dub Healer ist ein Album, das seine eigene Unvollkommenheit nicht nur offen zur Schau stellt, sondern regelrecht feiert. Schon das Punk-inspirierte Cover signalisiert: Hier wird nicht gebügelt, hier wird gebrannt! Die Tracks auf diesem Album sind – im besten Sinne – halbfertige Skizzen, rohe Entwürfe, die direkt aus der Werkstatt auf die Dubplate gewandert sind. Dass diese Dubs häufig aus letzten Entwürfen stammen und in einem Take aufgenommen wurden, verleiht ihnen eine Dringlichkeit, die sie von perfektionistisch zerarbeiteten Produktionen wohltuend absetzt. „Prayer Dub“ eröffnet das Album mit einem Stück Dub-Geschichte: Die legendären Samples von Alpha & Omega und Jonah Dan, seit 2007 in der digitalen Mottenkiste versteckt, bekommen hier ein spätes, aber umso würdigeres Revival. Die dial-up Modem-Geräusche und Vogelstimmen fügen sich in den rauen Klangteppich ein, der ebenso spirituell wie ungehobelt ist. „Better To Make Dub“ ist eine Hommage an Dub Judahs „Better To Be Good“ – ohne den Versuch, das Original zu übertrumpfen. Stattdessen gibt es eine respektvolle, energetische Neuinterpretation, die sich vor allem auf der Tanzfläche ihre Daseinsberechtigung verdient. Mit „Sing Jah Dub“ liefert Dub Healer genau das, was ein Sound System braucht: einen simplen, aber wirksamen Banger, der die Massive zum Mitsingen und -springen animiert. Minimalismus in Reinkultur – ein Basslauf, ein prägnanter Vocal-Sample, und genug Raum für die kollektive Ekstase vor den Lautsprechertürmen. „M1 Dub“ ist eine Liebeserklärung an den legendären Korg M1 Synthesizer, dessen digitale Klänge hier überraschend warm und organisch klingen. Es ist ein augenzwinkerndes Statement gegen den analogen Purismus: Ja, auch ein digitaler Dinosaurier kann unter den richtigen Händen ordentlich swingen. Kurz: „Raw & Remixed“ ist kein makelloses Kunstwerk – es will es auch gar nicht sein. Es ist ein Manifest des Moments, ein raues Klangtagebuch für Dub-Connaisseure und Sound System-Aktivisten. Jeder Hall-Effekt sitzt vielleicht nicht perfekt, jede Bassline ist vielleicht ein bisschen zu dominant oder zu schlank – aber genau darin liegt der Reiz.

Und ja, ich weiß, nicht selten halte ich die Fahne der komplexen, vielschichtigen Dub-Kompositionen hoch. Musik jenseits des reinen Dancefloor-Gebrauchs, intellektuelle Klangarchitektur, die man am besten im Sessel und mit einem Glas guten Weins konsumiert. Aber Hand aufs Herz: Wenn die Bassline erstmal rollt und die Crowd kollektiv abhebt, dann braucht es keinen gepflegt gealterten Wein. Man könnte sagen: Auch ich bin ein Opfer meiner eigenen Prinzipien geworden – und es fühlt sich ziemlich gut an. Denn am Ende gilt doch nur eines: Erlaubt ist, was Spaß macht. Dub war noch nie ein Ort für Dogmen, sondern immer ein Experimentierfeld zwischen spiritueller Suche und hemmungslosem Sound System-Exzess.

Bewertung: 4 von 5.

Kategorien
Five Star Review

The Breadwinners: Return to the Bakery

Dreizehn Jahre. Eine Ewigkeit in der schnelllebigen Welt digitaler Soundästhetiken, aber ein Wimpernschlag im Kosmos des Dub, wo sich die Zeit ohnehin in endlosen Echos und Reverbs auflöst. The Breadwinners, unter der Führung des notorisch zurückhaltenden Studio-Magiers Al Breadwinner, melden sich nach dieser Zeit erstmals mit einem neuen Dub-Album zurück: „Return to the Bakery“ – und es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Von der ersten Basslinie an ist unmissverständlich klar: „Return to the Bakery“ ist kein nostalgisches Experiment, sondern eine hingebungsvolle Hommage an die goldene Zeit des Reggae und Dub. Produziert und gemischt im hauseigenen Bakery Studio, bleibt Breadwinner seinem ethischen Kodex treu: analoge Bandmaschinen, Vintage-Outboard-Gear und ein Aufnahmeprozess, der das Live-Gefühl förmlich in die Magnetspuren prägt. Dabei klingt nichts angestaubt oder museal – im Gegenteil. Die Dubs rollen warm, organisch, mit einer Klangtiefe und Dynamik, wie sie nur mit heutigen Aufnahme- und Mastertechniken möglich ist. Jedes Delay, jeder Federhall ist nicht nur Effekt, sondern ein Instrument für sich, mit Seele und Eigenleben. Die Gästeliste liest sich wie ein Who’s Who des Reggae-Undergrounds. Nat Birchall und Stally lassen ihre Tenorsaxophone erklingen, während die lebenden Legenden Vin Gordon (Trombone) und KT Lowry (Trumpet) feine Bläsersätze beisteuern, die direkt aus der goldenen Ära des Studio One zu stammen scheinen. Alrick Chambers verleiht dem Ganzen mit seinem Flötenspiel eine fast ätherische Qualität. Doch der wahre Star bleibt Al Breadwinner selbst. Seine Dub-Mixe sind keine simplen „Versions“, sondern kunstvolle Dekonstruktionen. Wie ein Bildhauer meißelt er aus jeder Session eine neue, eigene Realität. Die Spuren werden fragmentiert, neu zusammengesetzt, im Raum verschoben – ein Spiel mit den Gesetzen der Physik und Psychoakustik. Man wähnt sich bisweilen im Black Ark Studio zu besten Zeiten. Nicht, weil hier plump kopiert wird, sondern weil der Geist von Lee Perry tatsächlich heraufbeschworen wird: die Verspieltheit, das Unerwartete, die charmanten Unsauberkeiten, die digitalen Produktionen heute so schmerzlich fehlen. Natürlich stellt sich die ketzerische Frage: Brauchen wir historisierende Musik?  Ist es nicht überflüssig, den Dub der 70er-Jahre bis ins kleinste Detail nachzubauen? Die Antwort gibt das Album selbst – mit einem entspannten, selbstbewussten Lächeln: Nein, ganz und gar nicht! Denn hier geht es nicht einfach um eine bloße Kopie vergangener Sounds. Diese Musik ist vielmehr eine Hommage an das Handwerk, ein sinnliches Erlebnis, das sich bewusst dem schnellen Konsum und den perfekt berechneten Streaming-Playlists entzieht. Sie fordert unsere Aufmerksamkeit – und belohnt uns dafür mit intensiven und zutiefst befriedigenden Hörerfahrungen. Und selbst wenn man als Kritiker einwenden möchte, sie sei „redundant“, bleibt sie doch vor allem eines: ein reines Vergnügen – und allein das reicht völlig aus, um ihre Existenz zu rechtfertigen.

„Return to the Bakery“ ist also kein Album für den beiläufigen Konsum und schon gar kein Soundtrack für den Hintergrund. Es ist ein akustisches Kunstwerk, das mit Hingabe und handwerklicher Präzision gefertigt wurde. Wer sich die Zeit nimmt, in diese Klangwelt einzutauchen, wird nicht nur von warm pulsierenden Bassläufen und kunstvoll eingesetzten Delays empfangen, sondern erlebt eine musikalische Tiefe, die unmittelbar zu den spirituellen Wurzeln des Dub zurückführt. Es ist Musik, die nicht der Zeit hinterherläuft, sondern die sie aufhebt.

Bewertung: 5 von 5.