Bei Alben, in deren Titel der Name Lee Perrys auftaucht, bin ich reflexhaft skeptisch. Zu oft schon wurde ich Opfer einer hemmungslosen „Perryploitation“. Doch da Mad Professor eigentlich ein seriöser Typ ist und er zudem clever genug war, neben „Perry“ auch „Black Ark“ in den Titel zu schreiben, klickte ich neugierig hinein, in das neue Album „Mad Professor and the Robotics featuring Lee Scratch Perry: Black Ark Classics in Dub“ (Ariwa). Und siehe da, der verrückte Professor hat tatsächlich mal wieder eine verrückte Idee in die Tat umgesetzt und ein kleines, feines Konzept-Meisterwerk vollbracht: Lee Perry-Klassiker (allerdings nicht nur aus der Black Ark-Ära) nachproduziert und sie zu großartigen, modernen Dubs und Instrumentals verarbeitet. Gelegentlich steuert Perry ein paar Vocals bei, was aber klar geht. Meistens hören wir pure Dubs, virtuos instrumentiert und arrangiert, druckvoll eingespielt und natürlich akademisch-raffiniert vom Professor gemixt. Und obwohl hier alles so schön modern klingt, ist es dem Professor und seinen begnadeten Robotics gelungen, den Vibe der alten Originalaufnahmen herauf zu beschwören. Hätte Lee Perry seine Black Ark nicht zerstört und würde heute noch produzieren – die Chancen stünden nicht schlecht, dass seine Aufnahmen sich genau so anhören würden. Hier sind sie alle, die lieben Klassiker: „Party Time“, „Soul Fire“, „Groovy Situation“, „Roast Fish and Cornbread“, „Zion Blood“ und viele andere mehr. Ich kann das Album gar nicht hoch genug loben. Zu dumm, dass Mad Professor in den letzten Jahren auch so viel mittelmäßige Musik produziert und veröffentlicht hat. Womöglich kostet diese Praxis dem „Black Ark Classics In Dub“-Album jetzt die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte, um als neuer Dub-Klassiker in die Geschichte des Genres einzugehen.
Kategorie: Five Star
Die mit 5 Sternen bewerteten Alben
Und da reiten sie wieder: Dub Spencer und Trance Hill! Ihr neues Album trägt den schönen Titel „Physical Echoes“ (Echo Beach), der gewiss auf die geradezu physische Hörerfahrung anspielt, die ihre gewaltigen Bassfrequenzen stets ermöglichen. Typisch für die vier Schweizer ist ihr minimalistischer, handgespielter Dub-Sound, der nicht selten psychedelisch, trance-hafte Züge annimmt. Ihr neustes Werk baut auch auf diesem soliden Fundament, doch scheint die hierauf errichtete Sound-Architektur einen kleinen Evolutionssprung zu vollziehen. Der raue, rockige Charme ihrer früheren Alben weicht hier einem stärker elektronisch geprägten Klang. Die ganze Anmutung wirkt dichter, intensiver und noch „dubbiger“. Im Kontrast dazu gibt es aber auch geradezu beschwingte, melodiöse Dubs, wie „Polar“ oder „Wanna Ride“ und mit „Hyperactive Echo“ sogar so etwas wie Dub-Funk. Es ist also gar nicht so einfach, das Album auf den Punkt zu bringen. Mir scheint, dass die Jungs hier die Tür zu etwas neuem aufstoßen, ohne schon komplett hindurch gegangen zu sein. Und mir scheint auch, dass das, was da kommt, verdammt gut sein wird – denn „Physical Echoes“ zählt für mich schon zu den spannendsten Alben des Dub-Quartetts.
Es gibt Dub-Alben, die fallen einfach so vom Himmel. Ohne Ankündigung, ohne vorherige große Erwartungen, ohne dass jemand auf sie gewartet hätte. Plötzlich sind sie da und wollen von mir angeklickt werden. „World of Dub“ (Heavenly Sweetness) von Blundetto ist so ein Album. Weder sein unscheinbarer Titel, noch das simple einfarbige Cover ließ mich im entferntesten vermuten, welch unglaubliche Dub-Schatz sich hier verbirgt. Blundetto war mir zwar entfernt ein Begriff. Sein Debut-Album „Bad Bad Things“ von 2010 hatte ich mal durchgehört, aber ohne dass es einen bleibenden Eindruck bei mir hinterließ. Zwei Alben später hatte ich den Pariser Musiker, der seine Tunes in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Nähe des Gare du Nord zwischen einer gigantischen Vinyl-Plattensammlung, alten Aufnahmegeräten, exotischen Instrumenten und übervollen Aschenbechern aufzunehmen pflegt, schon wieder vergessen. Zu unrecht, wie sich jetzt zeigt, denn seine schrägen, souligen Reggae-Produktionen, wie sie auf dem Vocal-Album „World Of“ zu hören sind, klingen durchaus spannend. Trotzdem sind sie kein Vergleich zu dem, was Max Guiget alias Blundetto nun auf der Dub-Version dieses Albums gezaubert hat. „World of Dub“ ist eine Klasse für sich. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wozu Dub – wenn sein Konzept richtig verstanden und konsequent umgesetzt wird – im Stande ist. Aus den souligen, manchmal etwas sperrigen Stücken des Originals sind hier gewaltige Bass-Wunder geworden, vollständig dekonstruiert und neu Interpretiert. Das Ergebnis ist ein merkwürdig widersprüchlicher Sound: einerseits absolut reduziert, fast schon minimalistisch, andererseits jedoch voller „analoger“ Atmosphäre und schräger Ideen, die manchmal an Adrian Sherwoods Frühwerk denken lassen. Manchmal aber auch an Lee Perrys Drum-Machine-Experimente oder daran, wie Bob Marleys Song „Work“ auch hätte klingen können: dunkel, geheimnisvoll und magisch. Oft sind es ja die Genre-Aussenseiter, die so spannende Sachen produzieren, weil sie sich einfach nicht um Regeln und Konventionen scheren. Blundetto ist so ein Typ und in seiner verrückten World of Dub können wir eine neue Spezies von Dub entdecken, die uns noch lange faszinieren wird.
In schöner Regelmäßigkeit legt der Münchner Dub Wizard Umberto Echo alle zwei Jahre ein neues Dub-Album vor. „The Name of the Dub“ (Echo Beach) ist sein neues Werk betitelt und das Cover zeigt ihn mit Bassbox und Mischpult inmitten von unzähligen, zu hohen Stapeln aufgetürmten Büchern. Unter ihnen so gewichtige Werke wie „Roots of Dub“, „Dub Alamanac“, „Battle of Dub“ und „Dub for Dubbies“. Auch, wenn man nicht William von Baskerville heißt, ist das Rätsel ist schnell gelöst. Umberto Echo spielt hier auf „The Name of the Rose“ seines Namensvetters Umberto Eco an. Wir erinnern uns: In dem Buch geht es um das „zweite Buch der Poetik“ des Aristoteles, in dem – nach der Tragödie im ersten Teil – die Komödie behandelt wird. Ein Buch, dessen Seiten der finstere Mönch und Hüter der Klosterbibliothek, Jorge von Burgos, vergiftet hat, weil er die in diesem Buch vertretene, positive Einstellung zur Freude und zum Lachen für zu gefährlich hielt. Niemand sollte es lesen und diesen Akt des Frevels überleben. Doch jetzt kommt Umberto Echo, tritt Mönch Jorge kräftig in den Hintern und spielt uns 17 verbotene Tracks aus dem Buch der Freude und des Lachens vor. Statt uns auf die transzendente Dimension von Dub einzuschwören (wie es Aldubb mit seinem letzten Album so vortrefflich getan hat), oder uns gar auf eine vermeintlich einzig wahre Schule des Dub verpflichten zu wollen, greift Umberto Echo einfach beherzt in die Regler und verbreitet puren Spaß. Mixt munter die Genres – wie wir es ja von ihm gewohnt sind – und knallt uns Bass, Melodien und gut gelaunte Produktionen um die Ohren, dass es eine Freude ist. Dazu greift er erneut auf Produktionen befreundeter Musiker zurück und konzentriert sich voll und ganz auf den Dub-Mix. Minimalismus und Dekonstruktion sind seine Sache nicht. Fast alle Dubs sind lebensprall und reich an Melodien, Sounds und Dub-Effekten. Da passt es gut ins Bild, dass einige der Dubs auf populären Tunes von z. B. Dubmatix, Sara Lugo, den Senior Allstars, Jahcoustics oder Jamaram basieren, deren Original-Vocal-Versionen noch im Ohr nachklingen, wenn Mr. Echo sich daran macht, seine verspielten Dub-Versions anzustimmen. Schöner Nebeneffekt: Das Ganze ist ein richtig netter Showcase europäischer Reggae-Produktionen. Lange Schreibe, kurzer Sinn: Schieden sich an Echos „Elevator Dubs“ noch die Geister, so werden hier, im Namen des Dub, alle ihren Spaß haben.
Wer sich gelegentlich in den Musik Online-Stores und bei den Streaming-Diensten umschaut, wird feststellen, dass zur Zeit der komplette ON-U-Sound-Back-Katalog online gestellt wird. Was liegt da näher, als einem der legendärsten Alben des Labels, „War of Words“ (On-U Sound), eine stolze analoge Vinyl-Reissue zu spendieren? Das Original erschien 1981 auf dem amerikanischen Label 99 Records und erst ein Jahr später auf On-U-Sound in Großbritannien. Es war das Debut der „Singers & Players“, eines virtuellen und niemals klar definierten Kollektivs verschiedener Reggae-Musiker, Deejays und Singer. Produzent Adrian Sherwood trieb damals die Vision um, mit 15 bis 20 Musikern in wechselnden Formationen den On-U-Sound-Kosmos und seine sehr spezielle Vorstellung von Post-Punk Roots und experimentellem Dub entstehen zu lassen. Im Zentrum dieses historischen Albums steht die sanfte Stimme von Bim Sherman, die auf fünf der sieben Tracks gefeatured wird. In scharfem Kontrast dazu steht Prince Far Is raues Organ, das vor allem auf dem Track „Quanté Jubila“ im Duett mit Crucial Tony zu hören ist. Dazwischen (und in den Extended Versions) sind Dubs eingestreut, die – hört man sie heute mit Blick auf die nachfolgenden rund 35 Jahre Dub-Historie – immer noch unglaublich innovativ klingen. Doch es sind weniger die einzelnen Stücke, die den besonderen Reiz des Albums ausmachen als vielmehr ihre Kombination – zumal die hier versammelten vier Extended Versions auch in sich schon eine Kombination aus Vocal- Deejay- und Dub-Version sind. Durch diese Zusammenstellung, den eigenwillig-räumlichen Dub-Syndicate-Sound und den durchgehenden markanten Dub-Mix aller Tracks, erhält das Album starken Konzept-Charakter – der seinerseits einen faszinierenden Flow zur Folge hat, in dem man sich als Hörer unweigerlich verliert. Einige wiederentdeckte, bisher unveröffentlichte Tracks aus den „War of Words“-Sessions erblicken zudem auf der EP „War of Version“ erstmals das Licht der Öffentlichkeit.
Oha, was ist das denn? Da mokiere ich mich an dieser Stelle stets über einfallslose Steppers-Klischees (obwohl diese ja von Zeit zu Zeit und am richtigen Ort auch gerade recht sein können) und fordere mehr Experiment, mehr Überraschung, mehr Freidenkertum – und dann das! Ein Album, das diese Forderung absolut ernst nimmt. Das mit allem bricht, was typischerweise Dub ausmacht. Das Konventionen radikal hinterfragt, sich um Genre und Stil nicht schert, beherzt musikalische Grenzen überschreitet und überhaupt alles anders macht, als man es erwarten würde. Oder anders ausgedrückt: Das neue Werk von Aldubb ist entweder ein geniales Konzeptalbum oder verkopfter Murks. „A Timescale of Creation – Symphony No. 1 in Dub minor“ (Feingeist Records), lautet der komplette Titel und demonstriert den verrückt hohen Anspruch des Albums. Eine Reise durch Raum und Zeit des Universums, vom Urknall, den Sekundenfragmenten danach, über unsere aktuelle Existenz bis in eine ungewisse, aber optimistisch erscheinende Zukunft – in Dub, versteht sich. Die 13 Tracks des Albums fließen nahtlos ineinander, ergeben ein einziges 42 Minuten langes Stück, eine Dub-Symphonie aus subsonischen Bassfrequenzen, donnerndem Wobble-Bass, elektronischen Sound-Wolken, klassisch-symphonischen Streichern, fein dosierten Klarinetten- und Posaunenklängen und – man glaubt es kaum – ganz normalen Reggae-Beats. Creation Rebels „Starship Africa“ trifft auf Hey-O-Hansen, trifft auf Matthias Arfmann, trifft auf Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. So etwas kann verdammt leicht in die Hose gehen. Zwar würde die Kritik positiv darüber zu schreiben, denn Kunst hat gegenüber profaner Unterhaltung immer einen Bonus. Aber nicht selten wäre das hochgelobte Werk tatsächlich langweilig. Es gehörte zwar in eine gepflegt-anspruchsvolle Sammlung, würde aber eigentlich nie freiwillig aufgelegt. Wie anders ist es hier! Aldubbs Exkursion durch die obskure Geschichte unseres Universums und in unsere noch viel obskurere Zukunft, ist mit jedem Takt unterhaltsam, packend und einfach unglaublich schön. Das Verhältnis zwischen neuen, verstörenden (dafür aber um so spannenderen) Reizen auf der einen Seite und soliden, wohlvertrauten Beats und Harmonien auf der anderen, stimmt exakt. Es ist unmöglich, sich der Faszination dieser akustischen Reise zu entziehen. Und wer beim Hören nicht zumindest eine Ahnung davon bekommt, was Dub, über das bekannte Konzept hinaus, noch alles mehr sein kann, muss entweder taub oder borniert sein. Aldubb stößt hier eine Tür zu einer neuen Dimension von Dub auf. Gehen wir hindurch!
Nick Manasseh ist auch einer meiner großen Dub-Heroen. Schon in den 1990ern war ich hin und weg von seinen hoch innovativen und schlicht wunderschönen Dub-Produktionen. Man erinnere sich z. B. an das grandiose „Dub The Millennium“ oder an seine Produktion für die Brasilianer Cool Hipnoise, deren Album „Showcase & More“ 2003 auf Echo Beach erschienen war und das ich gefühlt mindestens 200 mal gehört habe. Wer nicht so weit zurück denken mag, sollte sich einfach auf dem Label „Roots Garden“ umhören, um in Nicks fantastische Welt des Roots & Dub einzutauchen. Seine neuste Produktion ist das Showcase-Album „All a We“ (Roots Garden) für Brother Culture. Während der DJ-Veteran aus Brixton hier sechs schöne Old-School-Style-Toasts zum besten gibt, wollen wir unser Ohr lieber mal den darunter liegenden Produktionen – und insbesondere den sechs Dub-Versionen – leihen. Tja, und was es da zu hören gibt, ist einfach mal wieder wahnsinnig gut. Wie macht der Mann das nur? Seit 30 Jahren produziert er Reggae und Dub – und zwar stets an vorderster Front des Genres. Seit „Dub The Millenium“ 1993 von Acid Jazz lizensiert wurde, hat Nick seine Pole-Position inne. Wie keinem anderen Dub-Produzenten ist es ihm gelungen, am Puls der Zeit zu bleiben, sich selbst und die Musik stets zu erneuern und voraus zu denken, statt irgendwo in der Vergangenheit stehen zu bleiben (wie z. B. Mad Professor), sich zu wiederholen (z. B. Deadzone), oder sich in scheininnovative Kopfgeburten (z. B. Adrian Sherwood) zu flüchten. Dabei klingen die Produktionen von Nick selten spektakulär, sind niemals selbstgefällig oder aufmerksamkeitsheischend. Ganz im Gegenteil kommen sie eher unauffällig und selbstverständlich daher. Oft ist man schon mitten im Song, bevor einem dieser durch heftiges eigenes Kopfnicken überhaupt erst richtig bewusst wird. Statt mit großer Geste „Hier, hier!“ zu rufen, schleichen sich Nicks Produktionen in den Körper und versetzen ihn in Bewegung. Der Groove hat genau die richtige Körpertemperatur. Man versinkt in ihm, wie in wohl temperiertem Badewasser. Der Sound ist klar und kraftvoll, die Kompositionen perfekt strukturiert und arrangiert. „All a We“ ist deshalb aus meiner Sicht eines der besten Alben des laufenden Jahres.
Ein schlichtes, einfaches, unkompliziertes Album ist von den Senior-Allstars nicht zu erwarten. Ohne Konzept läuft bei ihnen nämlich gar nichts. Das fängt schon damit an, dass die Band Dub statt Reggae mit Gesang spielt – auch live. Ein Instrumentalalbum von Dub-Produzenten remixen zu lassen, die Dubs dann live als Album wieder einzuspielen, um sie schließlich mit Gesang zu versehen und erneut remixen zu lassen, klingt nach einem komplizierten Konzept, oder? Genau das steckt hinter den Alben „In Dub“, „What Next?“ und „Verbalized and Dubbed“. Im Vergleich dazu wirkt das Konzept hinter dem neuen Album „Dub from Jamdown – Darker than Blue“ (Echo Beach) auf den ersten Blick fast simpel: 2001 erschien auf Blood & Fire der von Steve Barrow und Mark Ainley zusammengestellte Sampler, „Darker than Blue: Soul from Jamdown 1973 – 1980“ mit Reggae-Reworkings von US-Soul Klassikern. Von diesem Sampler waren Markus Dassmann, Arne Piri, Gudze und Thomas Hoppe so angetan, dass sie beschlossen, die Stücke instrumental neu einzuspielen und ein neues Dub-Album der Senior Allstars daraus zu zaubern: „ Dub from Jamdown – Darker than Blue“ (Echo Beach). Oder einfacher ausgedrückt: Die Senior Allstars spielen die Stücke von Reggae-Artists nach, welche die Stücke von Soul-Artists nachgespielt haben. Alles klar? Es sind also Songs in der dritten Inkarnation. Na, wenn das mal nicht doch ein typisches Senior-Allstar-Konzept ist! Doch jedes Konzept ist nur so gut wie das, was hinten raus kommt – wie schon unser Bundeskanzler A. D. wusste. Tja, und das ist mal wieder der gute, alte, handgespielte, puristische, entspannte und leicht jazzige Sound der Allstars. Extrem präzise, reduced to the max, zugleich aber menschlich warm, organisch und stets leicht melancholisch – die Jungs haben ihren Stil gefunden. Und offenbar auch das richtige Material, um ihn einzusetzen: Songs wie „Baltimore“, „Aint no Sunshine“ oder „Why Can’t We Live Together“ klingen in ihrer Umsetzung einfach grandios.
Im Dub gibt es zwei große Sub-Genres: 1. Der historische, jamaikanische Dub, basierend auf klassischen, handgespielten Reggae-Backings. Bei ihm steht der Mix im Vordergrund. 2. Der UK-Steppers-Dub, basierend auf digitalen Rhythms mit starker Betonung der Bassline sowie der four to the flour-Bassdrum. Hier steht das Bass-Erlebnis im Vordergrund. Eigentlich sind beide Stile inzwischen historisch und es stellt sich immer wieder die Frage nach dem Sound eines zeitgemäßen Dubs, der nicht Klischees bedient, sondern konzeptuell und ästhetisch auf der Höhe der Zeit ist und im Reigen moderner populärer Musik mitspielen kann. Darauf gibt es viele mögliche Antworten. Doch eine Antwort erscheint mir derzeit am überzeugendsten: die „Brass Plant EP“ (Reggae Roast) des Vibration Lab. Hinter diesem Namen stecken zwei Sound-Tüftler aus Bristol und London, die von sich behaupten, „Future Reggae“ zu produzieren. Mit einem Bein stehen sie im Reggae-Dub, mit dem anderen in aktueller, digitaler Bass-Music. Mit ihrer neuen EP ist ihnen ein großer Wurf gelungen. Ich bin der Meinung, dass es ihnen endlich geglückt ist, ihre Idee vom „Future Reggae“ in die Tat umzusetzen – obwohl es sich hier, streng genommen, um „Future Dub“ handelt. Im Zentrum ihrer Musik pocht das Herz des Dub, dunkel, stetig, energisch. Es treibt einen Strom an Bass durch den Organismus. Einen Tsunami an Bass, der an Fenstern und Türen rüttelt. Stoisch und repetitiv drängt er gegen Trommelfell, Bauch und Brust. Doch dann sind da noch die Reggae-fremden Sound-Elemente, die eher aus den Sphären elektronischer Club-Music stammen, sich aber kongenial in das Reggae-Fundament einfügen. Sie formen sich zu kleinen Melodien, teils winzigen Phrasen, die endlos wiederholt werden und sich schließlich zu einem komplexen, polyrhythmischen Ganzen von unglaublicher meditativer Kraft fügen. Präzise, druckvoll, dynamisch und wahnsinnig schön. Müsste ich jemandem erklären, was moderner Dub ist – ich würde diese EP vorspielen – in der Hoffnung, meine Zuhörer spontan zu missionieren und in das Lager der Dub-Enthusiasten zu locken. Als nächstes haben die beiden Vibration Lab-Jungs ein Album mit Linval Thompson in der Planung. Darauf bin ich mehr als gespannt.
Mit den „Signs & Wonders“ des in L. A. ansässigen Dub Clubs, entstanden unter der Regie von Club-Veranstalter, Old-School-Reggae-Fanatiker und Hobby-Produzent Tom Chasteen, bin ich vor zwei Jahren gar nicht warm geworden. Sie boten sehr schön reproduzierten Rub-A-Dub-Sound, blieben dabei aber so nah am Original, dass sich unweigerlich die Frage stellte: Warum eine Kopie, wenn man das Original schon hat? Nun präsentiert Chasteen sein neues Album „In Dub“ (Stones Throw) unter ebenfalls neuem Artist-Namen: Natural Numbers. Das macht schon deutlich, dass er hier einen anderen Weg einschlägt. Natürlich bleibt er der alten Schule treu, aber was die natürlichen Nummern hier zu Gehör bringen, ist weit davon entfernt, lediglich eine Kopie des jamaikanischen Originals sein zu wollen. Nein, hier ging Chasteen ambitionierter ans Werk und hat zehn Tracks produziert, die eigenständig und einzigartig sind. In einem wunderbar entspannten, warmen Sound perlen hier vor musikalischen Einfällen, Atmosphäre und beschwingten Melodien nur so strotzende Dubs aus den Lautsprechern. Da hat Mr. Dub Club ein richtig schönes Album abgeliefert, das dem klassischen, jamaikanischen Dub huldigt, ohne ihn zu klonen. Aufgenommen wurde das Album 2013 mit einer echten Los Angeles-„All Stars“-Studioband um den Bassisten Fully Fullwood. Von ihnen stammt dieser schöne, klassische, handgespielte, warme Reggae-Sound, den Chasteen dann mittels Live-Mix in – tja, wie soll ich es ausdrücken – schlicht grandiose Dubs verwandelt hat. Garniert mit Vocal-Einsprengseln, die den Eindruck vermitteln, als existierten Song-Originale (was vielleicht sogar der Fall ist – wer weiß?), begleitet von so manchem Gitarren-Solo, das direkt einem Western entsprungen sein könnte und kontrastiert von charmanten Orgel-Parts, wie sie Mr. Mittoo nicht schöner hätte abliefern können. In meinen Ohren die perfekte Fusion aus Old-Style und modernem Dub-Verständnis. In einem Interview sagt Tom Chasteen: „I’ve realized that I’m not Jamaican and I never will be.“ Vielleicht war das die entscheidende Erkenntnis, die zu diesem schönen, neuen Album geführt hat.