Es ist schon tragisch. Immer, wenn mir ein neues Lee Perry-Album auf den Tisch flattert, verspüre ich mehr Pflicht als Lust, es mir anzuhören. Lee Perry war einmal DER Innovator des Reggae. Der Urheber eines fantastisch komplexen, magischen und absolut einzigartigen Sounds, geboren aus der glücklichen Begegnung von analogem Studioequipment, begnadeten Musikern, viel Marihuana und noch mehr Rum mit einem ganz speziellen Genius, der im Kopf Lee Perrys (noch diesseits der Grenze zum Wahnsinn) beheimatet war. Gegen Ende der 1970er Jahre überschritt das Genie diese Grenze und Perry wurde zu dem verschrobenen, brabbelnden Kauz, dessen monotone Monologe seither auf ungezählten Alben oft drittklassiger Reggae-Bands zu hören sind. Bands, die versuchen, aus dem legendären Namen Perrys bis heute Kapital zu schlagen. Welch Absturz, welch tragisches Schicksal. Nun ein neuer Versuch: Seit rund einem Jahr arbeitete Daniel Boyle – ein wenig bekannter britischer Reggae-Produzent – mit dem Madman an einem neuen Album. Zuvor hatte er die Ausstattung von Perrys Black Ark-Studio akribisch nachgekauft und so lange mit ihr herumexperimentiert, bis ihm schließlich gelang, was zuvor noch niemand geschafft hatte: den legendären Sound aus Perrys bester Zeit zu reproduzieren. Nun liegt das neue Werk vor, zu dem Perry nicht nur den (nennen wir es mal) Gesang beisteuerte, sondern das er angeblich auch mitproduziert hat: Lee „Scratch“ Perry: Back on the Controls. Es ist ein Doppel-Showcase-Album mit 11 Vocal-Tunes und 11 Dub-Versions und erscheint dank einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne auch als CD und schön bebilderte Doppel-Vinyl-Ausgabe. Top oder Flop? Kein Zweifel: Es katapultiert sich auf den Rang des wohl besten Perry-Albums der Neuzeit – einen Rang allerdings, den es sich mit Adrian Sherwoods „Dub Setter“-Album von 2010 teilen muss. Daniel Boyle (der mir bisher noch nicht untergekommen war) und Perry haben hier ein amtliches Meisterwerk geschaffen, indem sie den Black Ark-Sound zwar kopieren, glücklicherweise aber darauf verzichten (mit einer Ausnahme) die alten Stücke neu aufzubrühen. Statt dessen gehen die beiden eigene Wege, präsentieren starke, eigenständige, mit warmen Bläsersätzen durchzogene Rhythms, dosieren Lee Perrys Gebrabbel sehr angemessen, entlocken ihm sogar einige gute Melodien und bieten als Bonus zudem noch fantastische Dub-Versions. Auch Perry scheint erkannt zu haben, dass er da etwas ganz Besonderes in den Händen hält, weshalb er sich dazu entschlossen hat, sein ehrenvolles Upsetter-Label wiederzubeleben, um dem Album eine würdige Heimat zu bieten. Willkommen zurück, Mr. Perry.
Kategorie: Five Star
Die mit 5 Sternen bewerteten Alben
Ich liebe ganz orthodoxen, super-klassischen Steppers Dub: repetitiv, stoisch, körperbetont. Noch mehr aber liebe ich das Experiment: mutig, unkonventionell, schräg. Insbesondere dann, wenn Klänge unterschiedlicher Welten zueinander finden und etwas Neues, Ungehörtes erschaffen. Je ungewöhnlicher, je schräger die Fusion, desto spannender: Dub und arabische Musik, Dub und Balkan-Pop, Dub und schwedische Volkslieder – nur um ein paar aktuelle Beispiele anzuführen: allesamt großartige Kombinationen. Doch wie sieht es mit Dub und klassischer Musik aus? Kann das gehen, oder ist das doch zu abwegig? Matthias Arfmann unternahm 2006 mit Deutsche Grammophon Remixed einen ersten Versuch in diese Richtung, als er alte Karajan-Aufnahmen einem amtlichen Dub-Treatment unterzog. Was mich damals übrigens hellauf begeisterte (eine Begeisterung, die allerdings kaum jemand mit mir teilen wollte). Nun ein zweiter Vorstoß zur Integration des vermeintlich Unvereinbaren: Op’ra Dub Style von AudioArt (One Drop/Irie Ites). Der Name lässt es vermuten: Dub trifft auf Oper – und zwar verkörpert durch den klassischen Operntenor Uly E. Neuens auf der einen und einige superbe Dub-Produzenten (TVS, Dub Spencer & Trance Hill, Aldubb, Dubmatix, Dubble Dubble (Braintheft) und Tune In Crew) auf der anderen Seite. Das Ergebnis dieses Clashs ist – tja, wie soll ich es differenziert ausdrücken? – schlicht und ergreifend: genial! Es macht richtig Spaß diesem verrückten Experiment zuzuhören und festzustellen, dass Operngesang, klassisch anmutende Kompositionen (die aber alle exklusiv für dieses Album entstanden sind) und heavy duty Dub-Music kongenial zusammen klingen, als seien sie seit je her füreinander bestimmt. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit des gar nicht selbstverständlichen wird einerseits dadurch erreicht, dass Dub-Track und Gesang stets fein aufeinander abgestimmt sind, und dass andererseits der Operngesang mehr Melodie als Wort ist. So fügt er sich – fast wie ein Instrument – nahtlos und harmonisch in das Arrangement des Dub ein. Nicht ganz unerheblich mag auch die Tatsache sein, dass Uly E. Neuens – klassisch ausgebildeter Opern-Tenor, der auf allen wichtigen Opernbühnen Frankreichs zuhause ist – sich schon seit vielen Jahren für Reggae begeistert. So verfügt er über ein gutes Gespür für die Musik beider Welten. Sieben Tracks hat er für das Album eingesungen, weitere vier bieten Remixes der Aufnahmen und zwei Tracks gibt es als Bonus oben drauf. Der letzte ist eine Produktion von Aldubb mit Ulys Interpretation der „Ode an die Freude“. Das trifft es – wie ich finde – ziemlich gut.
Bei der Recherche zu manchen Dub-Acts komme ich mir vor, wie ein investigativer Journalist. Jedem Bit an Informationen, das ich aus dem Netz ziehe, geht ein gewundener Klickpfad über obskurste Seiten voraus. Manche Dubheads scheinen solch introvertierte Nerds zu sein, dass ihnen so etwas wie Selfmarketing einfach nicht in den Sinn kommt. Die Restless Mashaits gehören zweifellos dazu: Website under Construction, bei Facebook werden nur Fotos gepostet und bei Soundcloud natürlich keine Artist-Info. Soviel ist klar: hinter den ruhelosen Mashaits stecken Bassist und Perkussionist Stuff und Keyboarder Jill, zwei Dub-Addicts aus Genf, die seit den frühen 1990er Jahren Reggae und Dub produzieren. Die erste Dekade ihres Schaffens ist auf dem Album Kingston-Sessions 1992 – 2002 dokumentiert. Nun legen sie mit den Goulet Sessions 2003 – 2013 (Addis Records) Zeugnis über die letzten zehn Jahre ab. Während sie die Kingston Sessions (mit vorproduzierten Rhythms) in Jamaika fertig stellten, deuten die Goulet Sessions auf einen geheimen Ort in Europa hin. Laut einer auf Facebook geposteten Information waren Dean Fraser, Jonah Dan, Stepper, Deadly Headly und Scully daran beteiligt. So weit die Fakten. Kommen wir zur Verkostung: Das Album beginnt mit einem grandiosen Instrumental, das von Bläsern getrieben die Session mit enormer Dynamik eröffnet. Der darauf folgende Dub macht klar, dass die beiden Schweizer auch nach zwanzig Jahren an den Reglern alles andere als altersmilde geworden sind. Bestimmt, stetig, druckvoll aber nicht brutal oder auf den schnellen Effekt hin entwickeln sie ihre Dubs. Alles ist fein austariert, die Basslines sanft aber gewaltig, die Arrangements zurückhaltend aber inspiriert, der Mix ohne selbstgefällige Effekte, aber sehr solide. Das klingt unentschieden? Keineswegs! Der Track Ghetto Blues könnte die akustische Definition von „kompromisslos“ sein: Eine dermaßen stoische Bassline, ein so konsequent auf Repetition ausgelegtes Arrangement und ein so beseelter, klassischer Dub-Mix sind mir selten untergekommen. Dazu fantastische Bläsersätze und feine Bläser-Soli – hier passt einfach alles. Und wir sind erst bei Track 4! Es folgen weitere 7 Tracks, die dem Auftakt in nichts nachstehen. Ein superbes Dub-Album, das in mir schon die Lust auf die Sessions 2014 – 2024 weckt.
1964 erschien das heute legendäre Jazz-Album Jazz på Svenska (Jazz auf schwedisch). Auf ihm interpretierte der Pianist Jan Johansson alte schwedische Volkslieder als Jazz-Instrumentals. Es war ein in Schweden bahnbrechendes Album, das sich über eine Million mal verkaufte und die Entwicklung des skandinavischen Jazz stark beeinflusste. In einer dunklen Winternacht, 46 Jahre später, beschloss ein anderer schwedischer Musiker, Tomas Hegert, wahrscheinlich inspiriert vom minimalistischen, nur aus Klavier und einem tiefen, ruhigen akustischen Bass bestehenden Sound des Original-Albums, ein neues musikalisches Projekt zu starten: Jazz på Svenska in Dub! Nun liegt das Ergebnis als Download-Album vor und trägt den stolzen Titel Dub på Svenska. Es ist mit Abstand das spannendste und zugleich schönste Dub-Album, das mir in den letzten Monaten untergekommen ist. Kongenial setzt Hegert den warmen Sound von Johansson in fein arrangierte und zugleich kraftvoll-dynamische Dub-Beats um, die nicht selten von eher untypischen Instrumenten wie z. B. einer akustischen Gitarre bereichert werden. Die melancholisch-schönen Melodien der alten Volkslieder, von Johansson einst ausschließlich auf dem Klavier interpretierte, erklingen nun, von Instrumenten wie Xylophon, Akkordeon, Posaune, Melodika oder Geige gespielt, fast schwebend über dem erdenschweren Sound von Drum & Bass. Was in der Beschreibung ziemlich schräg klingt, ist in Wirklichkeit die perfekte Kombination zweier vermeintlicher Gegensätze: wie z. B. Schokolade und Chili – die Synästhesie zweier Welten. Einen ähnlichen Ansatz pflegen übrigens Hey-O-Hansen, mit ihrer Kombination tiroleser Bergmusik und Dub. Auch die Twinkel Brothers Inna Polish Stylee kommen mir in den Sinn oder Mahala Rai Banda mit ihrem Balkan Reggae. Auch wenn Puristen die Nase rümpfen, ich glaube, dass Dub genau dafür gemacht wurde: das Experiment zu wagen.