Schon der große Pablo Picasso wusste: „Gute Künstler kopieren. Große Künstler stehlen“. Oder wie wir Deutschen sagen: „Gut geklaut ist besser als schlecht selbst gemacht“. Der Kreative nennt diesen Prozess „Inspiration“. So ähnlich muss wohl „Ono-Sendai Sound Battles The Root Of All Evil“ entstanden sein. Der in Tilburg (NL) lebende Multiinstrumentalist, über den so gut wie nichts in Erfahrung zu bringen ist, liefert uns hier einen Sound, man könnte auch sagen eine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten und verstorbene Helden dieses Genres. Insbesondere an King Tubby, Yabby You, Roots Radics, Lee Perry, Joe Gibbs, Scientist, Errol T und so viele andere, denen wir diese wunderbare Musik verdanken.
Ein kreativer Prozess wie die Entstehung eines so großartigen Albums findet nie im luftleeren Raum statt. Vielmehr ist das Ergebnis dieses Weges die logische Folge einer Verkettung von Eindrücken, die der Künstler sammelt und mit seinen Erfahrungen in Einklang bringt. Wenn man zum Beispiel ganz normal Musik hört, werden diese Eindrücke als unbewusste Wahrnehmungen im Gehirn abgespeichert. Kreative Menschen wie Ono-Sendai Sound scheinen diese Dinge aufzusammeln, wie ein Eichhörnchen, das Nüsse hortet, um sie dann abzurufen, wenn sie gebraucht werden.
Aber viel wichtiger ist natürlich die bewusste Inspiration durch aktives Beobachten und Zuhören weit über den eigenen Tellerrand hinaus. So oder so ähnlich muss Ono-Sendai Sound vorgegangen sein. Für „Battles The Root Of All Evil“ hat er sich einige Reggae-Klassiker von Johnny Clarke, Peter Tosh, Eek-A-Mouse, John Holt, Gregory Isaacs und anderen vorgenommen und daraus ein zeitgemäßes, packendes Dub-Album gemacht. Die Riddims sind nach wie vor unübertroffen und die Textsamples untermalen diesen atemberaubenden Mix. Hall getränkte Percussions bahnen sich ihren Weg durch einen dichten Schleier aus Echos und Hall. Selbstverständlich bilden auch hier Bass und Schlagzeug das Rückgrat dieser detailverliebten Produktion. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf jeden einzelnen Track speziell eingehen, denn für mich zählt der Gesamteindruck des knapp 35-minütigen Albums, das es in diesem noch jungen Jahr bereits in meine engere Auswahl für die Jahresbestenliste geschafft hat.
Abschließend muss ich doch noch einen Track erwähnen, „Rich Mans Curse Dub“, weil er mich mit diesem permanent bedrohlichen Geräusch eines kreisenden Hubschraubers irgendwo fesselt und gleichzeitig schlimme Erinnerungen an die Berichterstattung über den Vietnamkrieg weckt. Eine eindringlichere Version von „Police in Helicopter“ habe ich bislang noch nicht gehört.
Obwohl die Original Skatalites mit dem Posaunisten Don Drummond nur von Mai 1964 bis August 1965 existierten, nehmen sie einen fast mystischen Platz in der vielfältigen Musikgeschichte Jamaikas ein.
Zehn Jahre nach dem Tod Don Drummonds und dem traurigen Ende der Skatalites trommelte der Bassist Lloyd Brevett einige seiner ehemaligen Bandkollegen zu einer Reunion zusammen. Produziert wurden die Sessions von Lloyd Brevett und Glen Darby, der bereits mit 14 Jahren für Coxsone Dodd bei Studio One sang und Mitglied der Scorchers war. Der harte Kern der legendären Skatalites bildete die Kernbesetzung für dieses Projekt: Lloyd Brevett, Lester Sterling, Rolando Alphonso, Tommy McCook und Jackie Mittoo. Doch damit nicht genug, auch die besten Studiomusiker der Zeit wie Horsemouth Wallace, Benbow Creary, Augustus Pablo, Chinna Smith, Ernest Ranglin waren mit von der Partie, und Don Drummonds Posaune wurde durch Vin Gordon ersetzt. Aber der größte Coup war meiner Meinung nach das Hinzufügen der Sons Of Negus Nyahbinghi Dummer Bongo T, I-Marts und Sidney Wolf. Lloyd Brevett wollte einen Sound, wie er ihn als Jugendlicher bei den Grounations in den Rasta Camps von Wareika Hills und Bull Bay erlebt hatte, denn diese Chanting und Reasoning Sessions waren sowohl musikalisch als auch mental prägend für ihn.
Lloyd entwickelte für die bevorstehenden Studio-Sessions die Melodien und Rhythmen zusammen mit Tommy McCook während einiger Jam-Sessions in seinem Haus in der Henderson Avenue, Waltham Park Road. An den Sessions sollen bereits die Nyahbinghi Drummer teilgenommen haben.
Danach ging es zuerst ins Black Ark Studio, wo drei Titel des Albums aufgenommen wurden. Brevett erinnert sich, dass er, McCook und die Nyahbinghi Drummer von Benbow Creary, Augustus Pablo und Chinna Smith begleitet wurden. Die restlichen fünf Stücke des Albums wurden im Aquarius Studio von Herman Chin Loy aufgenommen. Im Aquarius wurde die Liste der Musiker um Rolando Alphonso, Lester Sterling und Johnny Moore erweitert. Ernest Ranglin ersetzte Chinna Smith, und Benbow wurde durch Leroy „Horsemouth“ Wallace ersetzt. Das Album wurde 1976 mit dem Titel „The legendary Skatalites“ veröffentlicht. Spätere Ausgaben hießen schlicht „African Roots“. Einige Zeit später erschien in England die Dub-Version des Albums unter dem Titel „The Skatalites: Herb Dub – Collie Dub“ in einer Miniauflage von 200 Stück. Die im Black Ark produzierten Bänder waren zu King Tubby in die Dromilly Avenue, Kingston 11, gebracht worden, der daraus drei fantastische Dubs machte. Bei den im Aquarius Studio aufgenommenen Instrumentalspuren schlug Lloyd Brevett vor, die Dubs direkt von Herman Chin Loy abmischen zu lassen. Doch Clive Hunt bestand darauf, dass die Abmischung zwischen ihm und Karl Pitterson aufgeteilt wurde. Obwohl das Album in zwei grundverschiedenen Studios aufgenommen wurde, ist der Sound homogen, komplex, tiefgründig und von höchster musikalischer Qualität. Glen Darby erinnert sich, dass es für die Musiker, die an diesem Album beteiligt waren, immer mehr als nur eine weitere Aufnahmesession war. „Sie haben es nicht wirklich wegen des Geldes getan. Sie wollten die Band, die Skatalites, wiederbeleben.“ Es wurde ein Reunion-Album, denn drei Jahre später waren die Skatalites wieder auf Tour. Auf jeden Fall klangen die Aufnahmen der Skatalites weder vorher noch nachher so wie auf diesem Album. Das ist kein Ska, das ist echter Nyahbinghi Roots Reggae Dub von seltener Qualität, wunderbar gespielt und abgemischt. Ein essenzielles Album, das von LB Records/Studio 16 endlich wieder auf Vinyl veröffentlicht wird und unbedingt in jede Sammlung gehört.
Zur Info: Da ich die Neuveröffentlichung von 2024 auf keiner Streaming-Plattform finden konnte, musste ich leider auf die Compilation der Veröffentlichung von 2001 zurückgreifen, was aber meiner Meinung nach nicht weiter tragisch ist, denn darauf wird noch weit mehr geboten.
Was für ein schönes Album: Hornsman Coyote Meets House of Riddim, „Madman Slide“ (House of Riddim)! Eines der beeindruckendsten Werke, die ich in den letzten Wochen gehört habe. Die Rhythms sind satt, dynamisch, voller Wärme und Emotion – und dazu dieses beeindruckende Lead-Instrument: die Posaune. Sie klingt einfach majestätisch. Wahrscheinlich liegt es an ihrer dunklen Klangfarbe und dem relativ hohen Tieftonanteil im Vergleich zur Trompete, dass sie so warm, entspannt und souverän klingt – genau das, was perfekt zu Dub passt. Kein Wunder, dass auch die Band Message jüngst die Posaune als Lead-Instrument einsetzte. Hornsman Coyote zeigt uns, wie vielseitig das Instrument sein kann: mal sanft und groovend, mal energetisch und treibend. Manchmal umschmeichelt sie den Rhythmus, manchmal klingt sie wie die Posaunen von Jericho. Sieben Tage lang Posaunenspiel lässt die stärksten Mauern einstürzen – so behauptet es die Bibel. Hornsman spielt die Posaune 11 Tracks lang, was sich auf 43 Minuten addiert, bei der richtigen Lautstärke aber auch Wände wackeln lässt. Wichtig: Wer bei „Instrumentalalbum“ und „Posaune“ an Dean Frasers Saxophon-Exkursionen denkt, braucht hier keine Angst zu haben. Anders als bei Fraser, wo das Saxophon oft etwas isoliert über den Rhythms schwebt, interagiert Hornsmans Posaunenspiel harmonisch mit den Backings, ist darin geradezu eingebettet und verbindet sich organisch mit den Rhythms, ohne je aufdringlich zu wirken. Dazu wendet Hornsman einen cleveren Trick an: Er spielt die Posaune häufig auf zwei Spuren, die im Mix übereinander gelegt werden, was das Instrument weicher und sanfter klingen und es noch stärker mit den Rhythms verschmelzen lässt. Aber all das wäre nur halb so beeindruckend ohne die grandiosen Backings von House of Riddim. Diese österreichische Band gehört wirklich zu den Besten – ihre Produktionen sind handwerklich meisterhaft und zeigen, wie gut Reggae und Dub klingen kann.
Jekaterinburg ist mit 1,5 Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt Russlands. Benannt nach der Zarin Katharina I. und der Schutzpatronin der Bergleute, der heiligen Katharina, liegt sie an der Transsibirischen Eisenbahn und bildet die imaginäre Grenze zwischen Europa und Asien.
Ausgerechnet aus dieser für uns ziemlich abgelegenen Ural-Region kommt die 2008 gegründete Ska-Band Lollypop Lorry. Das Logo der Band zeigt den Lollypop Lorry – einen UAZ 452 Buchanka, die russische Antwort auf den Wolfsburger Bus & Lieferwagen (Bulli).
Die Erstveröffentlichung von Lollypop Lorry: Goes Dub (Jump Up! Records) im Jahr 2020 hat der Dubblog ebenso wie die Wiederveröffentlichung im Jahr 2022 komplett verschlafen. Aber besser spät als nie stelle ich euch dieses Album, das zwischen August 2018 und Oktober 2019 entstanden ist, kurz vor. Ein Album, das bei mir aktuell wirklich angesagt ist. Von den neun Titeln sind gleich acht Jazzstandards, die das Ska, Reggae/Dub & Latin Jazz Ensemble kongenial für unsere Ohren tiefer gelegt hat. Gemixt wurde das Album von Victor Rice in seinem Studio Copan in São Paulo. Die Dubs stammen von Ivan Gogolin, der das Album zusammen mit Maxim Koryagin produziert hat. Die beiden Musiker sind auch für die Arrangements verantwortlich, die sehr abwechslungsreich daher kommen. Den Anfang macht ein Miles-Davis-Standard, gefolgt von „Dizzy Dub“ nach einer musikalischen Vorlage des Trompeters Dizzy Gillespie. Das Schönste daran ist, dass die Band die Bassline von Aston Barrett aus „Lively Up Yourself“ nahtlos eingebaut hat. Einfach magisch! John Coltranes „Blue Train“ wird mit einer Reminiszenz an „Love Supreme“ zum „Dub >7< Train“. Das absolute Highlight des Albums ist für mich „Take Faya“, wo wir neben dem alten Dave Brubeck/Paul Desmond Klassiker „Take Five“ auch „Dub Fire“ von Aswads: A New Chapter of Dub zu hören bekommen. Was soll ich noch viel sagen? Sowohl die Basslines als auch die Dubs gefallen mir auf ganzer Linie – kurzum ein tolles Album, das ich viel zu spät entdeckt habe.
Es ist wieder so weit: Wir servieren euch unsere Dub-Top 5 des zu Ende gehenden Jahres. Wie ihr seht, zählt bei uns Diversity. Wie sollte es bei einem so facettenreichem Genre auch anders sein? Wir sind auf eure Kommentare gespannt.
Top 5 von René
Großartige, live eingespielte Intrumentals, zusätzlich mit Dub-Versionen. Was will man mehr?
Kein Remake sondern ein Newmake mit den fantastischen Stilmitteln der Vergangenheit – und ein großartiges Dub-Album.
»Greter« meint hier wohl »über Dub hinaus«, denn genau das liefert dieser faszinierende Stilmix, der zeigt, was Dub alles sein kann.
Dreadsquad is back – und so ganz anders, als erwartet. Erwachsen geworden! Schöne, inspirierte Instrumentals, superb ausgeführt und mit perfekten Sound.
Überragendes Album. Unter der Regie von Roberto Sánchez eingespielte Instrumentals und Dubs. Selten so viel Spielfreude gehört.
Top 5 von Ras Vorbei
Kein überbordendes Dub-Feuerwerk, sondern ein exzellenter meditativer Klangteppich mit ruhig mäandernden Riddims ohne viel Schnickschnack.
Ein lange verschollenes Album erlebt seine Renaissance.
Ein wunderbares musikalisches Vermächtnis.
Ein ganz eigener Sound, den nicht nur ich hypnotisierend finde.
Eine vierteilige kulturübergreifende Reise, bei der sich Reggae-, Jazz-, Dub- und Trip-Hop-Grooves zu einer kinematischen Palette verbinden.
Top 5 von gtk
Platz 1 geht diesmal nach… Bayern! Adubta verwandelt ein eher jazzig gehaltenes Album der Grazer Roots Organisation in ein basslastiges Monster mit Mörder-Dynamik. Schmäh-ohne!
Ras Teo, Zion I Kings und Lone Ark machen gemeinsam Musik – das konnte wenig überraschend nur gut gehen, sowohl in der Vocal- als auch in der Dub-Version. Das gilt für Teil 1 der Aufnahmesession…
… als auch für Teil 2. Bei beiden Alben treffen die Melodien von Ras Teo auf die musikalischen und produktionstechnischen Qualitäten von Roberto Sanchez, David Goldfine und Laurent Alfred, die sich hier wunderbar ergänzen.
Wer’s eher knackig-rockig mag, kommt an Sam Gilly’s House of Riddim nicht vorbei – das gilt auch für diese Kollaboration mit Posaunisten Hornsman Coyote. Da wird auch nicht mit Effekten gegeizt!
Da hat uns Prince Fatty tatsächlich 13 Jahre auf die Dub-Version von Little Roy’s ebenso feinem wie kuriosem „Battle for Seattle“-Album warten lassen. Wie konnte er nur!
Top 5 von Philipp K
Dieses Werk dreht am meisten Runden auf meinem Teller. Gross! Seit der Veröffentlichung „Zipporah“ (2020) bin ich dem Sound und der Magie von Emanuel & The Bionites verfallen. Kaum zu glauben, dass diese Musik Made in France ist.
Wie bereits in der Rezension nachzulesen, begeistern mich diese beiden Riddims und ihre Versions sehr. Reggae und Dub vom Feinsten, Seelennahrung pur.
Eine Compilation, die das beste und ausgesuchte Versionen und Mixes vom Blackbeard aus den Jahren 1976 – 1980 versammelt und das Sufferer Sound System nochmals hochleben lässt. Relevant.
Mein Dub-Jahr 2024 geht eindeutig an Frankreich. Das Label BAT Records und die Dub Shepherds stehen für unglaublich gute und hochstehende Reggae- und Dub-Produktionen, die mich in den meisten Fällen vollumfänglich überzeugen.
‚Welche Wüste?‘, frage ich mich gerade. Ist eventuell die Dub- und Reggae-Wüste Polen gemeint? Keine Ahnung und egal, denn dieses instrumentale Album ist Reggae-Dub-Ethio-Jazz vom Feinsten. Orgel, Saxophon, Flöte, Melodica (gehört einfach dazu) und gutes Arrangement stechen für mich heraus…
Statik Sound System: In Dub, Vol. 1
Das Label Echo Beach hatte ja schon immer eine Vorliebe für historisches Dub-Material im Crossover-Bereich, und ich muss sagen, die Tracks auf dem Album „In Dub, Vol. 1“ von Statik Sound System passen perfekt ins Label-Repertoire. Statik Sound System war eine Trip-Hop-Band aus Bristol, die Mitte der 90er vier Alben und ein paar Singles veröffentlicht hat. Echo Beach hat sich durch dieses Archiv gewühlt, die neun dub-kompatibelsten Tracks herausgefischt und auf ein Album gepackt. Die meisten davon sind zwar kein klassischer Reggae (dafür gibt’s aber vier Drum ’n’ Bass-Tracks), aber wenn man – wie ich – z. B. Dreadzone oder More Rockers mag, kann man auch mit dem Statik Sound System einiges anfangen. Ihr bekanntester Track, „Revolutionary Pilot“, der durch die DJ-Kicks-Compilation von Kruder & Dorfmeister weltweit bekannt wurde, ist auch hier ein zentraler Punkt. Mehrere Remixes, darunter einer von More Rockers und eine Version von Rob Smith, sorgen für Abwechslung. Das Album ist für mich eine sentimental-nostalgische Reise in die Vergangenheit, in eine Zeit, in der diese Sounds echte Avantgarde waren. Tracks wie „Secret Love“, „Free to Choose“, „Vacuum“ und das emotionale „So Close“ klingen so wunderschön nach den 1990er Jahren – und zeigen zugleich die ganze Bandbreite der Band. „In Dub, Vol. 1“ ist ein Erinnerungsstück an eine Ära, in der fette Beats, verträumte Melodien und das Spiel mit Dub-Rhythmen die Musikwelt verzauberten. Ja, der Sound ist eindeutig historisch, aber irgendwie klingen die Tracks in meinen Ohren trotzdem noch frisch. Vielleicht liegt es daran, dass es eben kein klassischer Dub ist, sondern eher ein stilistisch nicht ganz so leicht verortbares Dub-Experiment.
Was für ein Label-Name: „Spiritual Food“! Genau danach dürstet meine Seele. Und ja, es zeugt sicherlich von einigem Selbstvertrauen eine ganze LP von gut 40 Minuten Spieldauer mit gerade einmal zwei Riddims zu füllen. Aber ist nicht genau das Dub in seiner Reinkultur? Meiner Ansicht nach total. Und wenn die beiden Riddims und die Versions dann noch so gut und überzeugend daherkommen und sowohl für die Anlage zuhause richtig Freude aufkommen lassen als auch auf dem big Soundsystem zu überzeugen vermögen, was will Freund und Freundin von tief durchtränkter Rastakultur mehr?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, so groß ist meine Begeisterung für dieses Stück schwarzes Vinyl, das leider ohne Coverhülle einzig in einem weißen Papierumschlag geliefert wird (ganz im Oldschool Jamaika-Stil). Hinter der Produktion steht mit Lourenzo Bougard aka Macca Dread kein Unbekannter in der Szene. Zeichnet sich dieser doch auch für die einschlägig bekannten Youthie-Produktionen „Gecko Tones“ und „Nomad Skank“ und mittlerweile einige andere kleinere bemerkenswerte Veröffentlichungen verantwortlich (z.B. „Wise Up EP“ oder „Almandub#2“). Die Produktion ist tight und satt, hat aber für meine Ohren mit viel Perkussion und etlichen beigemischten Soundgimmicks eine gute mystische Note, die genau die Tiefe bringt, die ich so gerne mag. Spiritual Food eben, der Name ist Programm. Musikalisch sind die beiden Riddims hochstehend, sowohl melodisch als auch monoton treibend, genau in der richtigen Dosis (Paracelsus würde Luftsprünge machen). Der Hooligan- respektive Gringo-Riddim hat für mich mit seinen leicht ins kubanische antönenden Latinelementen etwas beinahe Euphorisches zu bieten und es wird mir überhaupt nicht langweilig viermal eine Instrumental- oder Dubversion hintereinander zu hören. Im Gegenteil, jeder neue Mix bringt wieder frischen Wind mit sich, andere Instrumentalparts werden ins Rampenlicht gerückt, Dub in Hochform. Besonders die „Benyah Horns Version“ mit der Posaune (die hier wie eine Trompete klingt) und die „Macca Dread Melodica Version“ mit den typisch kubanischen Pianoriffs sind echte Perlen. Sowieso liefern Benyah an der Posaune, Crucial Rob an der Ketedrum und der Cuica, die Irie Mates am Chorgesang, der Blues-Mundharmonika-Spieler Danos und Macca Dread an der Produktion, an der Melodica und an allen Dubmixes einen sehr guten Job ab. Die Dubmixes sind solid und reihen sich insgesamt geschmeidig ins Ganze ein.
Ha, jetzt habe ich just die Vocal-Versionen vergessen zu erwähnen. Hier gebe ich den beiden Sängern Zion Irie auf dem Hooligan-Riddim und Ras Tweed auf dem Point Finger Pon-Riddim ebenfalls Höchstnoten. Astreine conscious Lyrics, hört selbst hin. Und wie insbesondere Ras Tweed mit seiner ganzen Erfahrung bei „Point Finger Pon“ in den Flow kommt, dann wieder Tempo rausnimmt, hat etwas zutiefst Mitreißendes. Zuletzt möchte ich noch die beiden liebevoll gestalteten Porträts der Sänger erwähnen, die quasi das Cover ersetzen und der Künstlerin Aude Saloni zu verdanken sind. Diese Veröffentlichung ist zwar keineswegs ein klassisches Album, aber genau das richtige, um in dieser dunklen, kalten Jahreszeit die Sonne ins Dub-Herz und die Energie ins Tanzbein fließen zu lassen. Jahman!
King Size Dub 24
Und da ist sie wieder, die neue „King Size Dub“! Aktuell ist es „King Size Dub 24“ (Echo Beach). Fünf Jahre wurden unterschlagen, denn Reihe existiert schon seit 29 Jahren. 2024 steht also ein Jubiläum an! Die aktuelle, 24igste Ausgabe präsentiert satte 23 Tracks – laut Label sind 90 Prozent davon exklusive Titel. Natürlich sind die bekannten Namen aus dem Echo Beach-Stall dabei, unter anderem Noiseshaper, Dubblestandart, Dub Spencer & Trance Hill, Dub Syndicate, Illbilly Hitec, Dubinator und – wie sollte es anders sein – Martha & The Muffins. Aber es gibt auch eine ganze Menge frischer Artists außerhalb des bekannten Echo Beach-Universums. So überraschen Blundetto & Soul Sugar mit dem bescheidenen, ruhigen „Don’t Cry, It’s Only the Rhythm“ – eine wirklich äußerst schöner Tune. aDUBta liefert eine dumpfe, drückende und irgendwie magische Version des Cassava Piece-Riddims ab, die mich in ihren Bann zieht. Captain Yossarian kontert mit dem funkigem „Expensive Shit“. Insgesamt empfinde ich das Album als wunderbar frisch – es präsentiert mal wieder das große Spektrum des Dub. Label-Inhaber Nicolai ist ja bekannt dafür, dass er nicht viel von Genregrenzen hält, und genau diese Einstellung lässt jede neue King Size Dub zu einem spannenden Überraschungspaket werden. Ich bin jetzt schon gespannt auf die #30. No pressure, aber die muss groß werden!
Mich fasziniert der meditative, melancholische und abgrundtiefe Sound von Alpha Steppa. Die DNA von Vater und Tante, also von Alpha & Omega ist unverkennbar, und es gibt kaum einen aktuellen Dub-Artist mit einem so einzigartigen Signature Sound. Mad Professor war früher ähnlich erkennbar – und natürlich Alpha & Omega. Mit seinem Stil setzt sich Alpha Steppa deutlich von der konventionellen Steppers-Szene ab, bleibt aber zugleich hundertprozentig Sound System-kompatibel. Auch beim aufmerksamen Zuhören über Kopfhörer hat seine Musik viel zu bieten: Sie ist vielschichtig, komplex und nie langweilig. Zudem hat der Thronfolger in der Dub-Dynastie ein geniales Händchen für begnadete Vocal-Artists. Nai-Jah war für mich eine solche Entdeckung, aber auch Awa Fall und Wellette Seyon, mit denen er komplette Solo-Alben veröffentlichte. Sein neues Album „Collision of an Ancient Mind and a Modern World“ (Steppas) besticht wieder mit großartigen Vocal-Tunes. In der digitalen Version ist das Album zweigeteilt: Disc 1 enthält zwölf Vocal Tunes, unter anderem von Joe Yorke, Tanganyika, Sheila Langa, Fikir Amlak und Ras Tinny in einem Acapella-Solo. Disc 2 liefert dann die Dub-Versionen nach. „This album features some of my favourite voices in contemporary reggae and beyond, from Jamaica, the UK, Zimbabwe, the Seychelles, Brazil, the USA, Senegal, Italy, and Spain“, erklärt der Dub-Produzent. „With this record I set out to build a unique sound and atmosphere, the idea was to blend the rich heritage of dub with a vibrant, futuristic musical landscape.“ Beim Thema „Atmosphäre“ habe ich keine Einwände – im Gegenteil: Es ist hier immer wieder die Atmosphäre seiner Musik, die mich einnimmt und fasziniert. Wer allerdings bei „futuristic musical landscape“ an Einflüsse unterschiedlicher Musikkulturen denkt, liegt meiner Meinung nach falsch. Hier ist alles 100 Prozent Reggae und Dub und typischer Alpha Steppa-Sound. Nichtsdestotrotz liefern die Vocalists durch die Bank richtig gute Songs ab. Jeder einzelne Track präsentiert eine ausgefeilte Melodie, und fast alle glänzen sogar mit cleveren, sozialkritischen Texten auch jenseits Reggae-typischer Themen. Vielleicht ist auch der Albumtitel auf diese sozialkritische Tonalität gemünzt, denn linke, auf Gerechtigkeit und Diversität zielende Haltungen werden in unserer modernen Welt ja unverkennbar immer seltener.
Ich liebe den hypnotischen, harten Dub-Sound von Soundsystem-Sessions – diese repetitiven Rhythmen ziehen mich immer wieder in ihren Bann. Aber in letzter Zeit wächst meine Begeisterung für handgemachte, analog produzierte Musik noch stärker. Ich habe das Gefühl, dass sie „reicher“ und der Klang komplexer ist – natürlich nur, wenn sie richtig gut gespielt, aufgenommen und produziert ist. Abgesehen davon hege ich eine richtig große Wertschätzung für talentierte Musiker und Musikerinnen. Es ist einfach eine wahre handwerkliche Kunst, gute Instrumentals und Dubs manuell präzise und im perfekten Timing einzuspielen. Nachdem ich mich zuletzt ausführlich mit KI-generierter Musik beschäftigt habe, ist meine Wertschätzung für von Menschen geschaffene Musik noch einmal gewachsen. Und genau in dieser Stimmung fällt mir jetzt das neue Album von Message, „Showcase II“ (Messengers), in die Händen – und was soll ich sagen? Bereits „Showcase I“ hat mich begeistert, und jetzt bin ich bei „Showcase II“ erneut verzückt. Am Konzept hat sich – zum Glück – nichts geändert. Das Album enthält sieben Instrumentals und sieben Dub-Versionen. Lead-Instrumente sind wieder meist Melodica, Posaune und manchmal auch ein Keyboard. Alle Stücke sind Eigenkompositionen der Band, wurden live im Lone-Ark-Studio in Santander (Nordspanien) eingespielt und auf gutem, alten Magnetband aufgenommen. Studio-Mastermind Roberto Sánchez saß selbst an den Drums und übernahm auch die Aufnahme. Und natürlich wird das Ganze erneut als Hommage an den jamaikanischen Reggae der 1970er Jahre verstanden. Schon beim ersten Hören ist zu hören, dass Message nicht einfach nur kopiert, sondern die Essenz des Genres einfängt und neu interpretiert. Das gelingt den Musikern nicht zu letzt durch die Live-Aufnahme perfekt, denn nur so gelingt es wirklich, die Energie und die Vibes einzufangen, die den Roots Reggae so besonders machen. Es verleiht dem Album eine besondere Magie und einen authentischen, lebendigen Klang, der digitalen Produktionen oft vorenthalten bleibt (die dafür aber andere Qualitäten haben!). „Showcase II“ ist ein Werk, das nicht nur die musikalischen Architekten des Genres – also die jamaikanischen Musiker der 1970er Jahre – ehrt, sondern auch zeigt, wie die Band Message ihren eigenen Weg innerhalb dieser Tradition gefunden hat. Jeder Track auf „Showcase II“ strahlt den Spirit der Band aus, das Gemeinschaftsgefühl und die Liebe zur Musik. Hier kommt das Beste, was der Reggae zu bieten hat zusammen: Handwerkliche Brillanz, perfekte Produktion und nicht zuletzt richtig gute Kompositionen. Mal abwarten, ob ich bei „Showcase III“ wieder solche Lobeshymnen anstimmen muss. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen.