Vocal first, dub second (if at all), so lautet das Motto für die meisten Dub-Werke. Diese Reihenfolge ist ja auch logisch. Der Dub wird ja bekanntlich aus einem Vocal-Original gemischt, muss also zwangsläufig an zweiter Stelle stehen. Die meisten Bands und Produzenten lassen sich mit dem zweiten Schritt Zeit. Viel Zeit. Kommerziell macht es kaum einen Unterschied, da das Dub-Album sowieso nur von einer sehr, sehr kleinen Hörerschaft goutiert wird. Doch es gibt sie noch, die Bands und Produzenten, die diese Praxis mißachten und dem Dub einen gleichrangigen Stellenwert wie dem Original einräumen. Als da wären: die Soothsayers und Victor Rice. Das neue Instrumentalalbum der Band „Soothsayers Meets Victor Rice and Friends in Dub“ (Red Earth Music) erschien zeitgleich mit „Soothsayers Meets Victor Rice and Friends“. Zwei grandiose Alben, die eigentlich gleichermaßen in diese Kolumne passen, denn das „Original“ ist ein reines Instrumentalalbum.
Die Soothsayers sind eine britische Band mit Sitz in London. Sie wurde 1998 von zwei Blechbläsern gegründet (Idris Rahman und Robin Hopcraft) und verschrieb sich Ska, Reggae und Afrobeat. Sounds, denen sie bis heute treu geblieben ist. Entsprechend wird ihre Musik dominiert von kraftvollen Bläsersätzen, meist schnellen Shuffle-Beats, vielen Jazz-Einflüssen und generell einem sehr analogen Studio-Sound. Wenig überraschend also, aber von absoluter Perfektion und unbändiger Spielfreude. Vor allem die Jazz-Anleihen sorgen für eine schön komplexe Struktur, die kongenial zum repetitiven Rhythmus kontrastiert. Wohltuend ist auch, dass sowohl die Geschwindigkeit der Beats, wie auch die Arrangements von Stück zu Stück stark variieren. So wird das Instrumentalalbum zum richtigen Hörerlebnis.
Das Dub-Pendant addiert noch den Remix-Layer hinzu. Aber natürlich zeichnet sich guter Dub durch eine clevere Reduktion auf das Wesentliche aus. Produzent und Remixer Victor Rice weiß das natürlich und eliminiert folgerichtig mehr als er addiert. Rice ist ohne Zweifel exakt er richtige Man für diesen Job. Sozialisiert wurde er als Bassist, Sound-Engineer und Produzent in der New Yorker Ska-Szene der 1990er und 2000er Jahre. 2002 emigrierte er nach São Paulo in Brasilien, gründete seine eigene Band, produzierte und remixte unzählige Alben (u. a. wurde er einer der wichtigsten Produzenten bei Easy Star Records) und befasste sich insbesondere intensiv mit Dub. Letzteres ist für einen Ska-Musiker eine recht ungewöhnliche Entscheidung, ist Ska doch eine Musik, die aufgrund ihrer Geschwindigkeit kaum Platz für Dub lässt. Nun, Victor Rice machte aus diesem Dilemma seinen USP und steht seit etlichen Jahren für faszinierende Dub-Versionen von Ska oder Ska-beeinflusster Musik. Deshalb taucht sein Name im Dubblog auch regelmäßig auf.
Auf „Soothsayers Meets Victor Rice and Friends in Dub“ liefert er wieder ein Paradebeispiel seiner Kunst. Seine Dub-Mixes fügen sich organisch in die komplexe Struktur der Instrumentals und erschaffen eine gänzlich neue, originelle Interpretationen der Originale. Das Dub-Album hat eine gänzlich andere Tonalität, als das Instrumentalalbum. Während letzteres einem Feuerwerk gleicht, ist die Dub-Version eher ein Lagerfeuer, an dem man sich wärmen kann. Konzentration und Introversion statt überbordendem Temperament und hemmungsloser Extroversion. Beides hat seinen Reiz, aber wir Freunde des Dub neigen naturgemäß eher zum Weniger, als zum Mehr (nur beim Bass ist es anders herum ;-). Übrigens wäre Victor nicht Rice, wenn er nicht auch schon einige der Instrumentals mit sanften Dub-Effekten ausgestattet hätte. Daher bleibt nur die Empfehlung: Streamt einfach beide Alben!
Autor: René Wynands
„Havana Meets Kingston“ war 2017 eine große Sache. Ganz nach dem Vorbild von Buena Vista Social Club, lud Jake Savona aka Mista Savona – angeblich Australiens „leading reggae producer“ – alt gediente kubanische Musiker in alt gediente kubanische und jamaikanische Studios ein, wo sie alt gediente Reggae-Musiker, wie Sly & Robbie, Ernest Ranglin, Bongo Herman und andere trafen, um gemeinsam Musik aufzunehmen – und natürlich, um einen Dokumentarfilm zu drehen (aus dem aber scheinbar nichts geworden ist). Ein Riesenaufwand, der sich durch den (relativen) Erfolg des Albums auszahlte. Doch es wäre zu schade, die Aufnahmen nicht noch weiter zu verwerten – und da bietet sich doch ein Dub-Album an! Wer so groß denkt, kann nicht irgend einen Remixer beauftragen, weshalb Savona sich an Gaudi wandte, der auch außerhalb des Reggae-Kosmos Ruhm und Ansehen genießt. Gaudi ließ sich ganze fünf Jahre Zeit, um die neun Dubs zu mixen, die sich nun auf „Havana Meets Kingston in Dub“ (Mista Savona) finden. Vielleicht hat er ja jede Reglerdrehung vielfach intensiv durchdacht und gegen Alternativen abgewogen, um nach Monaten der Planung tatsächlich einen Dub aufzunehmen. Vielleicht befand er sich aber auch einfach nur in einer heftigen Corona-Lethargie. Jetzt jedenfalls ist es endlich so weit, das Dub-Album liegt vor und es ist wahrlich gut geworden. Gaudis Akribie zahlt sich aus, denn Sound und Mix sind schlicht superb. Es hätte allerdings schon viel schief gehen müssen, um aus den brillanten Vorlagen nicht ebenfalls brillante Dubs zu dengeln. Die Arrangements sind einfach klasse und die handwerkliche Perfektion der Musiker lässt keine Wünsche offen. Also: Gaudi beschert uns ein wunderschönes Dub-Album, auf dem sich das warten gelohnt hätte, wenn man von dessen geplanter Existenz gewusst hätte. Ich bin sogar der Meinung (wen wundert’s), dass die Dub-Version des Albums besser ist als das Original. Der Sound ist tighter und die übervollen Arrangements wurden auf ein Maß reduziert, das jedes einzelne Instrument wirklich zur Geltung kommen lässt. Mit Hall und Echo hält sich Gaudi ziemlich zurück, denn auch ohne diese passiert schon genug. Perfekt dosiert, würde ich konstatieren. Außerdem fällt auf, dass der von Savona produzierte organische Live-Sound in sehr reizvollem Kontrast zu Gaudis eher an elektronischen Tracks entwickeltem Dub-Mixing steht. Insgesamt sicher eines der bemerkenswerten Dub-Highlights 2022.
Blue & Red: Hidden Dubs
Die 1990er waren in musikalischer Hinsicht ein aufregendes Jahrzehnt. Es war die Zeit des UK-Dub und die Geburtsstunde der Dub-Sound Systems, wie wir sie heute kennen (okay, Jah Shaka, Originator und Urvater des modernen Dub, war schon viele Jahre früher aktiv). Dub war groß und schwappte sogar ganz vage in den Mainstream. Schuld daran war ein Dub-Stil, der eine deutliche Nähe zu House entwickelte. Denken wir an Dreadzone, Zion Train, Groove Corporation oder Rockers Hi-Fi. Was zeitgleich im UK passierte war die Entstehung von Jungle. Frisch und ungehört, eine absolut verrückte, stark Reggae-beeinflußte Musik. More Rockers und Smith & Mighty produzierten Jungle-Tracks, die ganz, ganz nah an Dub gebaut waren. Nur wenige Alben dürfte ich häufiger aufgelegt haben, als „Selection 2“ von More Rockers. Warum erzähle ich das? Weil hinter More Rockers, ebenso wie hinter Smith & Mighty ein Mann stand, der uns noch heute häufig über den Weg läuft: Rob Smith aka RSD aka Blue&Red. Wir kennen ihn vor allem als häufig von Echo Beach gebuchten Remixer, aber auch wegen seiner eigenen, recht speziellen Dub-Produktionen – an denen sich übrigens regelmäßig die Geister scheiden. Denn was Smiths Produktionen so speziell macht, ist sein rigoroser Minimalismus, seine stoische Repetitivität und die nackte Rauheit seiner Dubs. Alles drei Eigenschaften, die ich in ihrer Konsequenz sehr schätze, doch es gibt viele Dubheads, die Smiths Musik als Verrat am Genre verstehen. Nun ist sein Album „Hidden Dubs Vol. 1“ erschienen und ich habe arge Zweifel, ob es geeignet ist, die Rob Smith-Verächter zu bekehren. Wie zur Verteidigung zitiert Rob Smith Style Scott mit den Worten: “Dub is really what you would call a deconstruct, you strip it down, you strip it right down to bone!”. So gesehen, muss Dub minimalistisch und „raw“ sein. Und genau das liefert er uns mit seinen „Hidden Dubs“ – Tracks, die aus den vergangenen 25 Jahren stammen, einige von ihnen als überarbeitete Version, andere unverändert. Allesamt harte Dubs, pur, rau mit teils übersteuertem Bass und minimaler Instrumentierung. Hier klingt ganz deutlich die Junge/Drum&Bass-Schule durch. Ein klassischer Reggae-Producer würde Dub niemals so scheinbar „seelenlos“ umsetzen. Doch die Härte hat ihren Reiz und der Verzicht auf Schönheit ist zwar radikal, aber auch befreiend.
Vibronics Meets Mafia & Fluxy in Brixton
Da fügen sich zwei Welten wunderbar harmonisch zueinander: Steve Vibronics, Urgestein des UK-Dub und Mafia & Fluxy, britische Rhythmtwins und Hit-Produzenten. Steht ersterer für die klassische UK-Soundsystem-Kultur, sind letztere eher Protagonisten des klassischen Reggaes und Lovers Rock. Klassiker sind sie jedenfalls beide. Aber Mafia & Fluxy können auch anders. Auf „Vibronics Meets Mafia & Fluxy in Brixton“ (Scoops Records) spielen sie richtig harten Steppers. Perfekte Grundlage für Steve Vibronics, um daraus ausgesprochen qualitätsvolle Dubs zu schmieden (angeblich hat er die Rhythms „komponiert“ und sie die beiden nur einspielen lassen). Im Vergleich zu den jüngeren Kollaborationswerken von Mr. Vibronic sticht dieses Album deutlich heraus. Der Sound der Rhythmstwins ist einfach besser und ihre Arrangements spannender. Oft sind des ja die Details, die einen riesigen Unterschied im Gesamtergebnis machen. Und hier lässt sich konstatieren, dass drei Perfektionisten und Meister ihrer Fächer zusammen gefunden und gemeinsam ein richtig schönes Dub-Album erschaffen haben.
L.A.B: In Dub
Spätestens seit Fat Freddie’s Drop wissen wir, dass Reggae in Neuseeland GROSS ist. Angeblich war ein Bob Marley-Konzert im Jahr 1979 der Katalysator für diese Entwicklung. Zudem sei die Rastafari-Kultur speziell unter den Maori recht verbreitet – und Marihuana wird in Down Under ja bekanntlich auch sehr großzügig konsumiert. Wie dem auch sei: Reggae ist in NZ charttauglich. Interessanter Weise handelt sich dabei aber keineswegs um Reggae nach jamaikanischen Vorbild, sondern vielmehr um einen ganz speziellen, typischen NZ-Reggae-Sound aus. Er ist schwer exakt zu analysieren, aber eines ist offensichtlich: Er ist unfassbar relaxed. So sehr relaxed, dass er auf der Insel teils als „BBQ-Reggae“ verspottet wird (wir würden von „Fahrstuhlmusik sprechen“).
Mit L.A.B. gibt es nun einen neuen Star am Himmel der Südhalbkugel. Eine Band, deren Ursprung im Reggae liegt, die aber – ganz ähnlich wie Fat Freddie’s Drop – inzwischen eher den Pop-Markt bedient. Es existieren im Oeuvre von insgesamt fünf Alben aber genügend Reggae-Songs, um das wachsame Auge unseres Hamburger Dub-Labels Echo Beach auf sich zu ziehen. Dieses entschied kurzerhand: Lass uns die besten Songs in Dubs verwandeln, Paolo! Gemeint ist Paolo Baldini, der hier einen schönen Auftragsjob ausführte. Das Ergebnis heißt nun „L.A.B. in Dub“ (Echo Beach). Zum Glück sind die Tracks origineller als der Titel. Auch, wenn Paolo am liebsten Steppers produziert, so ist ihm hier ein ausgesprochen schönes, sanftes und harmonisches Werk geglückt. Perfekter Sound (der Sound der Originale ist ja bereits über jeden Zweifel erhaben) und vor allem grandiose Mixes! Hier findet das klassische Dub-Prinzip in Reinform Anwendung und demonstriert sein ganzes Potential.
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber Instrumentals oder Dubs unter Blechbläserführung scheinen 2022 absolut im Trend zu liegen. Ich bin sehr glücklich darüber, denn schon immer haben mir die Bläsersätze im Reggae gut gefallen. So gut, dass ich stets bedauerte, dass die Produktionen den Bläser-Sektionen oft nur so wenig Platz in den Stücken einräumen. Dass sie dann im Zuge der zunehmenden Kommerzialisierung Keyboard-Fake-Bläsern zum Opfer gefallen sind, gehört zu den dunklen Kapiteln der Reggae-Geschichte. Aber nun scheint ja die Zeit für Entschädigung angebrochen zu sein: Youthie, Dub Vallila, The Super 20 und nun noch: Death by Dub mit dem Album „Abundance“ (Color Red). Zur Zeit bläst es aus allen Richtungen. Beeinflusst von den üblichen Verdächtigen, Perry und Tubby und natürlich Tommy McCook und Rico Rodriguez, haben Dan Africano und Scott Flynn eine Band gegründet, die sich vollkommen Dub und Blechbläsern verschrieben hat. Dan Africano und Scott Flynn sind alt gediente Reggae-Musiker und haben (genau wie Lee Hamilton und Craig Welsch von The Super 20) ihre Reggae-Lehre bei John Brown’s Body absolviert. Um 2018 machten die beiden sich selbständig, zogen nach Denver, Colorado, und gründeten Death by Dub. Nun legen sie ihr Debutalbum „Abundance“ vor. Wie bei den „Whinds of Wareika“ haben hier eine Vielzahl von Musikern ihre Hände im Spiel. Entsprechend opulent sind die Arrangements. Doch anders als bei den „Whinds“, haben wir es bei „Abundance“ mit echten Dubs zu tun. Der Sound ist tighter und die Beats schwerer. Ich bin hellauf begeistert von diesem Album. Es hält die perfekte Balance zwischen Konzentration und Offenheit. Die Rhythms sind hervorragend produziert und die Bläsermelodien inspiriert komponiert. Hier stimmt eigentlich alles. Zudem ist der Vibe des ganzen Albums so wunderbar positiv und uplifting, dass es einfach nur Freude macht, mit dieser Musik durch den Sommer zu schweben.
Dub Spencer & Trance Hill: Imago Cells
Die „Imago“ ist das aus dem Jugendstadien hervorgegangene geschlechtsreife Insekt, also die Adultform. Um eine Raube in ihr Imago zu verwandeln – einen Schmetterling (wie er auf dem Cover der neuen Albums von Dub Spencer & Trance Hill abgebildet ist) – werden im Raupenkörper so genannte „Imagozellen“ aktiv. Sie sind die Auslöser der Metamorphose. Interessanter Weise befinden sich die Imagozellen von Geburt an im Körper der Raupe, werden aber vom Immunsystem des Insekts zunächst unterdrückt. Erst, wenn es ihnen auf Dauer gelingt, sich zu behaupten und zu vermehren, wird die Metamorphose eingeleitet.
Eine interessante Geschichte, die Masi Stalder, Markus Meier, Julian Dillier und Philipp Greter da aufgespürt haben, um damit metaphorisch den Wandel ihres musikalischen Stils zu illustrieren. Denn, in der Tat, vollziehen die Luzerner Dub-Musiker mit ihrem neuen Album „Imago Cells“ (Echo Beach) eine deutliche stilistische Veränderung, nämlich von Dub zu Trance. Einen Wandel, der – laut eigener Aussage (und den Bandname legt es nahe) schon von Anfang an in der Band „steckte“. Zwar sind immer noch Offbeats zu hören, doch treibende Dance-Beats sind deutlich dominanter. Außerdem – gänzlich ungewohnt bei den Luzernern – sind die elektronische Synthie-Klänge. Zum Glück nicht in Form der für Trance typischen „Flächen“, sondern rhythmisch eingesetzt. Insgesamt erinnert mich das entfernt an den 90er-Jahre Sound von Dreadzone, Rockers Hifi oder Zion Train. Andererseits ist da aber auch noch der gewohnte, unverkennbar analog/akustisch wirkende Signature-Sound von Dub Spencer & Trance Hill. Was mir besonders gefällt: Die Musik der Viererbande groovt wie nie zuvor. Was früher teils verkopfter Dub war, ist jetzt körperorientierte Dance-Music. Ich bin gespannt, wohin die Metamorphose die vier experimentierlustigen Luzerner in Zukunft noch führen wird.
The Super 20: Winds of Wareika
Mit einer Nähe zu Rico Rodriguez Meisterwerk „Man from Wareika“ haben schon einige Reggae-Alben geworben. Bei „Winds of Wareika“ (The Super 20) von The Super 20 wäre ich geneigt, diese Marketingstrategie durchgehen zu lassen, denn was die auf dem Album versammelten 12 Musiker hier abliefern, ist schlichtweg grandiose Blasinstrumentalmusik. Mastermind der Super 20, der New Yorker Saxophonist Lee Hamilton, beschwört hier die klassischen Bläserklänge von Don Drummond, Rico Rodriguez, The Crusaders oder Fela Kuti herauf und verschmilzt diese Einflüsse mit modernen Sounds a la Thievery Corporation oder Quantic. Dabei überschreitet er gelegentlich die engen Grenzen des Reggae, was aber keineswegs negativ auffällt. Mal kommt Latin zum tragen, mal klingt es nach Afro Beat. Aber immer spielt das Saxophon die Hauptrolle. Neben Hamilton haben zahlreiche weitere Musiker an der Entstehung dieses Debut-Albums mitgewirkt, was auch deutlich zu hören ist, denn die Produktionen sind reich und opulent instrumentiert. Überhaupt muss betont werden, dass die Produktionen überaus gelungen sind. Sie sind ein Gemeinschaftswerk von Hamilton und dem Bostener Produzenten und Toningenieur Craig Welsch. Die Zusammenarbeit der beiden begann in den frühen Tagen von der Band John Brown’s Body, wobei Hamilton die Bläsersektion bildete und Welsh als Tontechniker fungierte. Die beiden teilen also schon seit Jahren eine gemeinsame Vorstellung davon, was sich beim Musikmachen „gut anfühlt“. Hier zeigt sich, dass Trompete, Posaune und Saxophon mit Leichtigkeit schaffen, was der Melodica verwehrt bleibt, nämlich die nötige Ausdruckskraft zu entfalten, um Instrumentalstücke anzuführen und sie locker über Albumlänge zu tragen. Kein Wunder also, dass sich das ganze Album auch für mich supergut anfühlt.
Dexter Dub: From Dub to Bass
Dub ist ja bekanntlich trotz seiner minimalistischen Formel ein ziemlich wandelbares Genre. Eine sehr beeindruckende Auslotung der Grenzen bietet und der Kölner Dexter Dub mit seinem neuen Album „From Dub to Bass“ (Nippes Home Productions). Der Sub-Titel ist ein Kurzmanifest von Dexters Ansatz: „Electronic Translation of Reggae Music“. Dexter in eigenen Worten: „Zentraler Drehpunkt in meinen aktuellen Produktionen ist die Liebe zu Reggae in allen Facetten und der Versuch den Reggae-Vibe in elektronische/digitale Genres, wie Dub, Dubstep, Deep Dub, Jungle, Drum‘n’Bass oder wie man es auch immer bezeichnen will, zu übersetzen“. „Übersetzen“ ist meines Erachtens nicht der treffende Begriff, denn alle aufgezählten Genres sind ja mehr oder weniger direkte Abkömmlinge von Reggae und Dub. Aber wir wissen, was Dexter meint, und so überrascht es nicht, dass er auf „From Dub to Bass“ ein ausgesprochen buntes Potpourri fast aller Stile liefert, die unter dem Begriff „Bass Music“ subsumiert werden. Manchmal kombiniert er sogar mehrer Stile in einem Track. Wunderbar eklektizistisch das Ganze, ja fast anarchistisch – und deshalb ungemein erfrischend. Bekanntlich ist nichts wohltuender, als ein beherzter Schritt über Grenzen. Eine Wohltat, die wir Freunde des Dub uns viel zu selten gönnen. Hier haben wir die Gelegenheit dazu.
Ich bin sehr d’accord damit, Russland und russische Produkte zu boykottieren. Keine Frage. Aber wie sieht es mit dem Album eines russischen Sound Systems aus? Ich denke, hier gilt der Boykott nicht – und zwar aus drei Gründen: 1. Ein russisches Dub-Album ist per se kein kommerzielles Produkt. Es nicht zu hören, fügt der russischen Wirtschaft somit keinen Schaden zu – es zu boykottieren wäre daher sinnlos. 2. Freie (!) Kunst und Kultur dient fast immer der Verständigung von Menschen und damit dem Frieden. 3. Ich gehe fest davon aus, dass die Akteure eines russischen Sound Systems der Staatsmacht gegenüber subversiv und kritisch eingestellt sind. Daher befinden wir uns auf der gleichen Seite. Daraus folgt: Ich möchte euch guten Gewissens auf das Album „Dublaboratory Vol. 1“ (Dubophonic) vom Culture Horn Sound System aufmerksam machen. Es handelt sich dabei sicher nicht um ein Dub-Meisterwerk, aber vielleicht haben die Culture Horn-Dubheads ein wenig Solidarität der Dub-Gemeinde verdient. Das Sound System aus Kremenki in the Kaluga-Region hat hier zur Feier seines zehnjährigen Bestehens die vier besten Produktionen des eigenen Oeuvres versammelt und präsentiert sie im Dublaboratory in je zwei Versionen: als Instrumental und als Dub. Ich tippe mal auf volldigitale Produktionen, Steppers Style – aber nicht brutal. Hört mal rein und schickt ein paar Kudos in den russischen Untergrund.