Ich höre die Musik von J. Robinson seit Jahren. Releases auf WhoDemSound, diverse Dubplates, immer wieder taucht sein Name auf. Und trotzdem: Ich weiß nichts über ihn. Keine Bio, kein Interview, kein Gesicht, keine Anekdote. Auch das Internet – sonst zuverlässig auskunftsfreudig – bleibt stumm. Keine brauchbaren Informationen. Keine Hinweise. Keine Geschichte. Das ist unbefriedigend, aber vielleicht auch konsequent. Also bleibt nur die Musik. Und die, muss ich zugeben, läuft bei mir gerade ziemlich oft. Genauer gesagt: „Dubplates Volume 1“ (Whodemsound). Ein Album, das keinerlei Überraschungen bereithält. Keine stilistischen Experimente, keine neuen Produktionsideen, keine markanten Sound-Details. Digitaler UK-Dub, wie man ihn kennt. Warm. Gleichförmig. Funktional. Und trotzdem höre ich es ständig. Ich klicke auf Play. Immer wieder. Ich höre es laut. Nicht aus analytischem Interesse, nicht aus Neugier. Sondern weil es einfach da ist. Weil es läuft. Und weil es gut läuft. Was mich dabei irritiert: Ich halte mich eigentlich für einen offenen, suchenden Hörer. Ich mag Experimente. Ich schätze Ungewöhnliches. Ich finde Gefallen an Brüchen. Aber hier ist nichts davon. Und ich genieße es trotzdem. Denn dieser Dub – so glatt, so unspektakulär, so stoisch – trifft etwas in mir, das ich sonst gern ignoriere: mein Bedürfnis nach Kontinuität. Nach Wiederholung. Nach Sound, der sich nicht aufdrängt, sondern einfach bleibt. Ich höre also nicht genau hin. Ich analysiere nichts. Ich lasse laufen. Und werde ruhig. Der Bass ist da, tief und weich. Die Percussions klackern vor sich hin, polyrhythmisch, aber nie hektisch. Die Offbeat-Chops kommen, wie sie kommen müssen. Keine Überraschung. Keine Variation. Und doch: Atmosphäre. Viel Atmosphäre. Wenn ich darüber nachdenke, würde ich vielleicht genau diese Tracks auflegen, wenn mich jemand fragt, was Dub eigentlich ist. Ich würde keinen herausragenden Klassiker spielen, auch keinen experimentellen Dub am Rande des Genres. Sondern J. Robinson: Dub als Zustand. „Dubplates Volume 1“ ist also kein Album, das erklärt werden will. Es will gespielt werden. Und dann noch mal. Und dann wieder. Vielleicht ist das seine größte Qualität. Und vielleicht erklärt sich J. Robinson damit besser als jede Bio es könnte.
Bereits im Herbst 2022 wurde mit „Augustus Pablo and Rockers All Stars: Lightning and Thunder“ eine fantastische Sammlung größtenteils bisher unveröffentlichten Materials aus den Archiven der Pablos veröffentlicht. Zweieinhalb Jahre später fördert Augustus Pablos Sohn Addis für das französische Label Only Roots erneut einige Schätze aus den Archiven von Rockers International ans Tageslicht. Der Titel der Vinyl-LP „Augustus Pablo: King Tubbys Meets Rockers At 5 Cardiff Crescent, Washington Garden, Kingston“ verweist unmissverständlich auf die Adresse des legendären Black Ark Studios. Das neue Album ist wieder eine Fundgrube größtenteils unveröffentlichter Stücke. Die dreizehn zeitlosen Riddims der Rockers All Stars sollen demnach alle im Black Ark Studio von Lee „Scratch” Perry aufgenommen und bei King Tubbys abgemischt worden sein. In Goethes Klassiker höre ich Dr. Faust sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.” Mir geht es genauso, denn ich höre den typischen Black-Ark-Sound kaum. Bei „Tide Rope Dub” hingegen ist Scratchs Handwerk definitiv wahrnehmbar. Trotzdem liefert das Album Dub-Versionen von Perlen wie „Keep a Good Dub” (Immortals: „Why Keep a Good Man Down”), „North Street Dub” (Hugh Mundell: „Run Revolution a Come”), „Home of Dub” (Immortals: „A House Is Not a Home”) und „Stop Them Jah” feat. Jacob Miller (Riddim: „Who Say Jah No Dread”). Von besonderem Interesse sind außerdem zwei alternative Versionen von Pablos „Unfinished Melody”. Einige Tracks der LP erschienen, wenn überhaupt, erstmals vor Jahrzehnten auf extrem raren, verkratzten 10-Inch-Veröffentlichungen. Bei dieser Zusammenstellung handelt es sich also nicht um eine bloße Wiederveröffentlichung, sondern um äußerst seltene Aufnahmen, die nun einem größeren Publikum zugänglich gemacht wurden. Bezeichnend finde ich, dass auf dem Cover ein sehr junger Augustus Pablo mit seinem Markenzeichen, der Melodica, zu sehen ist. Allerdings ist die Melodica auf keinem der Tracks dieser Veröffentlichung zu hören.
Nachtrag am 25.07.2025: Mein letzter Satz ist schlichtweg falsch! Nach erneutem, intensivem Anhören muss ich meine Aussage revidieren, denn die Melodica ist im „Home of Dub” eindeutig wahrzunehmen – wenn auch nur kurz.
Im Rahmen seines jüngsten Projektes „Lisabon by Bus“ hat Bruno Crux die Gelegenheit genutzt, seiner Passion für Reggae, Dub und Roots in vollem Umfang nachzugehen. Sein Engagement und Interesse für die karibische Kultur begann Ende der 90er Jahre als Schlagzeuger der Band Nature an der Seite von Freddy Locks. Im Jahr 2007 veröffentlichte er das erste Album von Lisabon by Bus und fundamentierte damit seine musikalische Vision, insbesondere auch durch die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Künstlern. In der Folge wurde das Kollektiv „Fittest of the Fittest“ gegründet, das sich durch die Verwendung eines vollständig analogen Soundsystems auszeichnet und sich auf die Präsentation von authentischem „Roots-Sound“ spezialisiert hat.
Mit seinem jüngst bei Subciety Records publizierten Album „Lisabon by Bus: Sincretismo“ gelingt dem portugiesischen Schlagzeuger und Produzenten Bruno Crux ein eindrucksvolles Comeback. Das Mini-Album beinhaltet vier Instrumentalstücke, gefolgt von jeweils einer von Sr. Dubong gemischten Dub-Version. Die Musikstücke verbinden World-Musik-Klänge mit Reggae-Rhythmen. Der Fokus liegt dabei auf dem Phänomen des „Sincretismo” (Sinkretismus), das an der Schnittstelle unterschiedlicher kultureller und religiöser Einflüsse entsteht. Die Kompositionen demonstrieren eine Verbindung vom damaligen „Ende der Welt“, dem „Finis Terra“ im Westen der Bretagne, zum uralten Mystizismus von Axum im Norden Äthiopiens und von dort über die unendlichen eurasischen Weiten zum Berg Amba Gashen in der äthiopischen Region Amhara. Es ist eine musikalische Reise durch verschiedene geografische Orte, die von Reggae-Grooves geleitet, mit Klängen aus aller Welt angereichert wird. Die vier Instrumentalstücke „Finisterra”, „Aksum”, „Eurasia” und „Amba Gashen” symbolisieren dabei Stationen dieser imaginären Reise. Die Instrumentierung der Stücke übernehmen Bruno Crux am Bass, an den Gitarren, am Klavier und an den Percussions, Pedro Mighty Drop am Schlagzeug und an den Percussions sowie Zacky Man an den Keyboards. Als besondere Gäste wirken João „The Rooms“ Gonçalves (Klavier und Guzheng bei „Finisterra“, Guzheng bei „Aksum“), Ras Kamarada (Gitarre bei „Aksum“) und Freddy Locks (Gitarre bei „Amba Gashen“) mit.
„Raw & Remixed“ (Reverb & Delay) von Dub Healer ist ein Album, das seine eigene Unvollkommenheit nicht nur offen zur Schau stellt, sondern regelrecht feiert. Schon das Punk-inspirierte Cover signalisiert: Hier wird nicht gebügelt, hier wird gebrannt! Die Tracks auf diesem Album sind – im besten Sinne – halbfertige Skizzen, rohe Entwürfe, die direkt aus der Werkstatt auf die Dubplate gewandert sind. Dass diese Dubs häufig aus letzten Entwürfen stammen und in einem Take aufgenommen wurden, verleiht ihnen eine Dringlichkeit, die sie von perfektionistisch zerarbeiteten Produktionen wohltuend absetzt. „Prayer Dub“ eröffnet das Album mit einem Stück Dub-Geschichte: Die legendären Samples von Alpha & Omega und Jonah Dan, seit 2007 in der digitalen Mottenkiste versteckt, bekommen hier ein spätes, aber umso würdigeres Revival. Die dial-up Modem-Geräusche und Vogelstimmen fügen sich in den rauen Klangteppich ein, der ebenso spirituell wie ungehobelt ist. „Better To Make Dub“ ist eine Hommage an Dub Judahs „Better To Be Good“ – ohne den Versuch, das Original zu übertrumpfen. Stattdessen gibt es eine respektvolle, energetische Neuinterpretation, die sich vor allem auf der Tanzfläche ihre Daseinsberechtigung verdient. Mit „Sing Jah Dub“ liefert Dub Healer genau das, was ein Sound System braucht: einen simplen, aber wirksamen Banger, der die Massive zum Mitsingen und -springen animiert. Minimalismus in Reinkultur – ein Basslauf, ein prägnanter Vocal-Sample, und genug Raum für die kollektive Ekstase vor den Lautsprechertürmen. „M1 Dub“ ist eine Liebeserklärung an den legendären Korg M1 Synthesizer, dessen digitale Klänge hier überraschend warm und organisch klingen. Es ist ein augenzwinkerndes Statement gegen den analogen Purismus: Ja, auch ein digitaler Dinosaurier kann unter den richtigen Händen ordentlich swingen. Kurz: „Raw & Remixed“ ist kein makelloses Kunstwerk – es will es auch gar nicht sein. Es ist ein Manifest des Moments, ein raues Klangtagebuch für Dub-Connaisseure und Sound System-Aktivisten. Jeder Hall-Effekt sitzt vielleicht nicht perfekt, jede Bassline ist vielleicht ein bisschen zu dominant oder zu schlank – aber genau darin liegt der Reiz.
Und ja, ich weiß, nicht selten halte ich die Fahne der komplexen, vielschichtigen Dub-Kompositionen hoch. Musik jenseits des reinen Dancefloor-Gebrauchs, intellektuelle Klangarchitektur, die man am besten im Sessel und mit einem Glas guten Weins konsumiert. Aber Hand aufs Herz: Wenn die Bassline erstmal rollt und die Crowd kollektiv abhebt, dann braucht es keinen gepflegt gealterten Wein. Man könnte sagen: Auch ich bin ein Opfer meiner eigenen Prinzipien geworden – und es fühlt sich ziemlich gut an. Denn am Ende gilt doch nur eines: Erlaubt ist, was Spaß macht. Dub war noch nie ein Ort für Dogmen, sondern immer ein Experimentierfeld zwischen spiritueller Suche und hemmungslosem Sound System-Exzess.
Dreizehn Jahre. Eine Ewigkeit in der schnelllebigen Welt digitaler Soundästhetiken, aber ein Wimpernschlag im Kosmos des Dub, wo sich die Zeit ohnehin in endlosen Echos und Reverbs auflöst. The Breadwinners, unter der Führung des notorisch zurückhaltenden Studio-Magiers Al Breadwinner, melden sich nach dieser Zeit erstmals mit einem neuen Dub-Album zurück: „Return to the Bakery“ – und es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Von der ersten Basslinie an ist unmissverständlich klar: „Return to the Bakery“ ist kein nostalgisches Experiment, sondern eine hingebungsvolle Hommage an die goldene Zeit des Reggae und Dub. Produziert und gemischt im hauseigenen Bakery Studio, bleibt Breadwinner seinem ethischen Kodex treu: analoge Bandmaschinen, Vintage-Outboard-Gear und ein Aufnahmeprozess, der das Live-Gefühl förmlich in die Magnetspuren prägt. Dabei klingt nichts angestaubt oder museal – im Gegenteil. Die Dubs rollen warm, organisch, mit einer Klangtiefe und Dynamik, wie sie nur mit heutigen Aufnahme- und Mastertechniken möglich ist. Jedes Delay, jeder Federhall ist nicht nur Effekt, sondern ein Instrument für sich, mit Seele und Eigenleben. Die Gästeliste liest sich wie ein Who’s Who des Reggae-Undergrounds. Nat Birchall und Stally lassen ihre Tenorsaxophone erklingen, während die lebenden Legenden Vin Gordon (Trombone) und KT Lowry (Trumpet) feine Bläsersätze beisteuern, die direkt aus der goldenen Ära des Studio One zu stammen scheinen. Alrick Chambers verleiht dem Ganzen mit seinem Flötenspiel eine fast ätherische Qualität. Doch der wahre Star bleibt Al Breadwinner selbst. Seine Dub-Mixe sind keine simplen „Versions“, sondern kunstvolle Dekonstruktionen. Wie ein Bildhauer meißelt er aus jeder Session eine neue, eigene Realität. Die Spuren werden fragmentiert, neu zusammengesetzt, im Raum verschoben – ein Spiel mit den Gesetzen der Physik und Psychoakustik. Man wähnt sich bisweilen im Black Ark Studio zu besten Zeiten. Nicht, weil hier plump kopiert wird, sondern weil der Geist von Lee Perry tatsächlich heraufbeschworen wird: die Verspieltheit, das Unerwartete, die charmanten Unsauberkeiten, die digitalen Produktionen heute so schmerzlich fehlen. Natürlich stellt sich die ketzerische Frage: Brauchen wir historisierende Musik? Ist es nicht überflüssig, den Dub der 70er-Jahre bis ins kleinste Detail nachzubauen? Die Antwort gibt das Album selbst – mit einem entspannten, selbstbewussten Lächeln: Nein, ganz und gar nicht! Denn hier geht es nicht einfach um eine bloße Kopie vergangener Sounds. Diese Musik ist vielmehr eine Hommage an das Handwerk, ein sinnliches Erlebnis, das sich bewusst dem schnellen Konsum und den perfekt berechneten Streaming-Playlists entzieht. Sie fordert unsere Aufmerksamkeit – und belohnt uns dafür mit intensiven und zutiefst befriedigenden Hörerfahrungen. Und selbst wenn man als Kritiker einwenden möchte, sie sei „redundant“, bleibt sie doch vor allem eines: ein reines Vergnügen – und allein das reicht völlig aus, um ihre Existenz zu rechtfertigen.
„Return to the Bakery“ ist also kein Album für den beiläufigen Konsum und schon gar kein Soundtrack für den Hintergrund. Es ist ein akustisches Kunstwerk, das mit Hingabe und handwerklicher Präzision gefertigt wurde. Wer sich die Zeit nimmt, in diese Klangwelt einzutauchen, wird nicht nur von warm pulsierenden Bassläufen und kunstvoll eingesetzten Delays empfangen, sondern erlebt eine musikalische Tiefe, die unmittelbar zu den spirituellen Wurzeln des Dub zurückführt. Es ist Musik, die nicht der Zeit hinterherläuft, sondern die sie aufhebt.
Der Auftakt von „Dubs of Perception“, dem neuen Album von Zion Train, ist ein kalkulierter Schock: Aus dem Nichts hallen archaisch anmutende Stammesgesänge, roh, ungestimmt, wie eine Beschwörung am Lagerfeuer. Kaum hat man sich auf diesen pseudoethnografischen Trip eingelassen, wuchtet ein monotoner Sub?Bass heran, so dick und stoisch, dass er die Stimmen beinahe verschluckt. In der nächsten Minute prallen diese beiden Pole immer wieder aufeinander?–?ein zeremonielles Echo und eine tieffrequente Wucht, die zusammen eigentlich nicht funktionieren dürften. Dann ein Break. Klangebenen verzahnen sich und der eigentliche Dub beginnt, der weder Roots?Tradition noch Club?Schema bedienen will. Genau in diesem Moment wird klar, welches Spiel hier gespielt wird: Erwartung erzeugen, Erwartung zerreißen, Kontrast auf Maximum, und dann alles in einen neuen Kontext bringen.
„Ich habe dieses Mal bewusst einen anderen Ansatz gewählt.“ erklärt Neil Perch, Produzent und treibende Kraft hinter Zion Train. „Im Studio habe ich geplant, neue Technologien mit alten, fast schon vergessenen Methoden zu verbinden. Ich wollte wieder zurück zu den Wurzeln des Live?Dub?Mixings – mit einem 40?Jahre alten, restaurierten 32?Kanal?Analogpult. Dieses Mischpult hat Geschichte, es war zum Beispiel in den legendären Music?Works Studios auf Jamaika im Einsatz.“
Trotzdem klingt das Album keineswegs museal, sondern überraschend gegenwärtig. „Gleichzeitig habe ich aber moderne Effekte integriert, wie das Zen?Delay und eine neue Version des Roland?TB?303 – das ist die klassische Acid?House?Bassmaschine. Diese Kombination aus Alt und Neu macht den Sound des Albums aus.“ In den tiefen Frequenzen brummt also Vergangenheit, darüber flirrt das „Hier und Jetzt“, gestützt von Cara?Jane?Murphys (sehr sporadischen) Gesangslinien, Roger?Robinsons Spoken?Word?Akzenten und der energiegeladenen Zion?Train?Bläsersektion. Gastmusiker wie Paolo?Baldini oder die Veteranen Trinny?Fingers und Blacka?Wilson füllen das Klangbild mit einem Selbstverständnis, das nur entsteht, wenn Studio?Sessions noch echtes Zusammenspiel bedeuten.
Das zentrale Prinzip des Albums bleibt jedoch die Unvorhersehbarkeit: „Beim analogen Mixing ist alles impulsiv.“, sagt Neil. „Ich stelle den Mix grob ein, wähle die Effekte – aber ab dem Moment, wo ich auf Play drücke, ist es reine Improvisation. Da kannst du nichts mehr durchplanen. Du folgst einfach dem Vibe, und das bringt Seiten meines künstlerischen Charakters zum Vorschein, die bei komplett durchdachten Produktionen nie auftauchen würden. Genau das macht die Arbeit spannend. Auch nach über 35?Jahren überrascht mich dieser Prozess immer wieder selbst.“ Diese Haltung spürt man in jedem Stück. So zum Beispiel in „Travelling“, das mit einem Burning Spear-Sample beginnt und dann zu einem 303-Gewitter wird, als wolle die Maschine die Grundfesten des Subwoofers testen. Dann gesellt sich eine liebliche Flötenmelodie hinzu – schräger lassen sich Dubs kaum komponieren. Dass diese Ästhetik nahtlos an „Siren“ anknüpft, bestätigt Neil: „Es gibt eine klare Verbindung zu meinen frühen Sachen. Damals in den 90ern habe ich viel mit Acid?House?Maschinen gearbeitet. Auf dem Album „Siren“ hatte ich sie dann zum letzten Mal eingesetzt. Jetzt bin ich mit meinem Equipment wieder in diese Richtung zurückgegangen. Vor allem, weil ich diesen Klang liebe?–?aber auch, weil mich das, was ich in den letzten fünf bis acht Jahren in der Dub?Szene gehört habe, ziemlich gelangweilt hat. Ursprünglich mochte ich Dub, weil er im Vergleich zum Reggae spannend war. Reggae wurde meiner Meinung nach schon in den 1990ern langweilig und ist es bis heute. Also wandte ich mich Dub zu, weil er in den Achtzigern und Neunzigern noch aufregend war: neue Ideen, neue Technik, viele neue Gruppen. Doch während sich das Dub?Virus verbreitete?–?was einerseits großartig ist, weil nun die ganze Welt Dub hört?–?wurde die Musik für mich irgendwann ebenfalls langweilig.“ beschreibt Neil seine musikalische Entwicklung. „Technologisch versuche ich beim Musikmachen stets, mich weiterzuentwickeln, anzupassen und zu erneuern. Mich motiviert vor allem: Klänge zu erschaffen, die nicht ständig auf die heutige Dub? und Reggae?Sprache zurückgreifen – denn die empfinde ich als vollkommen vorhersehbar, kommerziell und uninspirierend. Zu viel Musik klingt exakt gleich, ist voller Klischees, kultureller Aneignung und falsch verstandener Konzepte – all das meide ich konsequent.“
Mit „Dubs?of?Perception“ liefert er nun Material, das diesem Dub-Mainstream zuwider läuft – Tracks, die sich nicht in einem simplen Steppers-Beat erschöpfen, sondern sich erst durch wiederholtes Hören erschließen.
Gerade darin liegt die Stärke des Albums: Es fordert Zuhören, ohne sich der Tanzbarkeit zu verweigern. Die Live?Erfahrung der Band – 2024 erneut auf Bühnen von Mexiko bis Kroatien erprobt – scheint ins Studio hineinzuwirken. Modulationen, Delays und abrupt gesetzte Breaks erinnern an jene Momente, in denen Neil während eines Konzerts den Hallfader hochreißt, bis der Raum nur noch aus Echo besteht. So schafft „Dubs?of?Perception“ das Kunststück, gleichzeitig Rückschau und Zukunftsentwurf zu sein. Die handwerkliche Sorgfalt, mit der Neil seine Tracks komponiert, verbindet sich mit der Lust am Risiko, neue Verbindungen zu knüpfen und Mainstream-Pfade zu verlassen. Wenn Dub heute oft wie ein Genre klingt, das seine eigenen Rituale endlos wiederholt, legt Zion?Train genau dort den Hebel an: Neil nimmt das Ritual ernst, aber er variiert es – und zwar so radikal, dass man am Ende eines Tracks das Gefühl hat, eine vertraute Sprache neu gelernt zu haben. Wer wissen will, wohin sich Dub jenseits der gängigen Steppers?Schablonen bewegen kann, findet hier eine faszinierende und überaus leidenschaftliche Antwort.
Würde ich Gesang im Reggae mögen, wäre Perfect Giddimani mit Sicherheit einer meiner Favoriten – der Mann hat’s drauf: Er kann nicht nur singen (sprich: er trifft Töne und hat Phrasierung und Atemtechnik drauf) und gibt den DJay vortrefflich; vor allem kann er auch feine Texte und eingängige Hooklines schreiben. Gut, hin und wieder passieren ihm Schreianfälle, über die man mal geflissentlich hinwegschauen bzw. hinweghören kann. Ein gutes Händchen beweist Perfect Giddimani jedenfalls bei der Auswahl seiner Produzenten bzw. bei der Auswahl seiner Backing-Tracks – etwa von House of Riddim oder Irie Vibrations.
Diesmal hat sich Perfect Giddimani für die Zusammenarbeit mit Victor Gallardo akaSinky Beatz entschieden – einem spanischen Musikproduzenten und gelerntem Jazz-Musiker, der sich eigenen Angaben nach auf Roots Reggae und Dub spezialisiert hat. Das gelingt ihm recht gut und jedermann kann seine Riddims für wohlfeile 49 bzw. 99 US$ via seiner Website erstehen. So könnte das auch Perfect Giddimani für sein aktuelles Album „Sibusiso (Blessings)“ gehandhabt haben – es ist allerdings davon auszugehen, dass die Zusammenarbeit doch tiefer geht. Sinky Beatz veröffentlicht seine Riddims übrigens auch auf den diversen Streaming-Plattformen – es stellt sich freilich die Frage, warum? So eintönige, durch weiche Keyboard-Teppiche eingeschmalzene Instrumentals sind für den versierten Hörer nicht unbedingt attraktiv und zählen definitiv zur Kategorie Hintergrundmusik. Dass das auch anders geht, hat das letztjährige Album „Dubphilia“ bewiesen – eine angenehm zu hörende Sammlung feiner Dub-Tunes mit eingängigen Basslines und dem rechten Maß an Dynamik. Was da echt instrumentiert ist und was Samples bzw. AI zu verdanken ist, sei dahingestellt; das Album ist jedenfalls empfehlenswert – unter anderem, weil dort mit den Keyboard-Layers eher sparsam umgegangen wird.
Gleiches gilt für das eben erschienene „Sibusiso in Dub“ (Giddimani Records), dem Companion-Album zu Perfect Giddimani’s „Sibusiso (Blessings)“. Solide von Sinky Beatz produziert, punktet es mit erstklassigem Sound und wunderbar eingebetteten Dub-Effekten; auch hat man nicht vergessen, viele Hooklines im Mix zu belassen. Einzig und allein der überstrapazierte Bass-Soundeffekt hätte etwas sparsamer eingesetzt werden könnte. Wir kennen ihn von den Mad Professor-Mixen, wo er als sein USP gesehen werden kann. Allerdings hat der Professor es nie geschafft, ihn so schön und perfekt wie Sinky Beatz in den Mix zu integrieren.
Ist „Sibusiso in Dub“ also Roots-Dub at it’s best? Nein, aber ziemlich nahe dran. Etwas weniger Perfektion hätte dem Album vielleicht gutgetan – von allzu viel Schönheit hat man bald mal genug. Nichtsdestotrotz einen Daumen hoch für diese Produktion… und ich bin hin und wieder stark versucht, auch den zweiten Daumen anzuheben.
Blanc du Blanc, wer ist das denn? Ich muss zugeben, dass ich diesen Bandnamen noch nie gehört habe, obwohl sie in den letzten Jahren zwei sehr empfehlenswerte Alben („The Blanc Album“; „Regatta du Blanc du Blanc“) und eine EP („Wind of Change“) veröffentlicht haben. Die Band arbeitete bei „Wind of Change“ – der Scorpions-Ballade – sogar mit dem legendären Lee „Scratch“ Perry zusammen und segelten trotzdem unter meinem Radar. Blanc du Blanc ist ein Heteronym. Zum einen ist es eine imaginäre Figur, die derzeit mit Umhang und Maske auftritt. Zum anderen ist es auch das Gesicht einer Gruppe von wechselnden Musikern aus New Jersey, die sich einer einfachen Charakterisierung widersetzen und sich selbst als „created by an undercover artist, working as an agent for Monrovia“ beschreiben. Es handelt sich um eine Gruppe von Musikern, um Mastermind und Bandleader Chris Harford. Sie agieren live maskiert im Verborgenen und haben Verbindungen zu Bands wie Morphine, Bad Brains und JRAD. Chris Harford ist definitiv kein unbeschriebenes Blatt und wahrlich ein Tausendsassa der amerikanischen Musik- und Kunstszene. Er ist Sänger, Songwriter, Gitarrist und Maler und hat seit 1992 eine Reihe von Alben mit seiner Band „Band of Changes“ veröffentlicht.
In der Welt des Dub / Reggae verlassen sich Musiker und Produzenten normalerweise in der Regel stark auf alte und analoge Geräte und Techniken. Nicht so bei Blanc du Blanc. Im Gegensatz zu den jüngeren Veröffentlichungen anderer Bands, die fast schon historisches Equipment verwenden, ist das Album „Before the Beginning“ eindeutig im digitalen Zeitalter entstanden und erinnert teilweise an modernere Produzenten wie Bill Laswell.
Kommen wir nun zum eigentlichen Objekt der Begierde: Das Projekt „Scientist meets Blanc du Blanc: Before the Beginning“ (Soul Selects Records) ist nicht nur das Aufeinandertreffen zweier genialer Künstler – es ist der Zusammenprall von Welten, Frequenzen und Zeitlinien. Scientist, der Dub-Pionier, der den Sound von Generationen geprägt hat, nimmt die Spektraltransfers von Blanc du Blanc und verwandelt sie in etwas Irdisches und doch Kosmisches. Er lässt jenseitige Klänge auf tief verwurzelte jamaikanische Tradition treffen. Scientist ist in seinem Element und liefert, was das Dub-Herz begehrt: Hypnotische Delays, interstellare Reverbs und fette Basslines, die durch die Galaxien schwingen. Sie bilden ein Portal zu einer neuen Dub-Dimension, in der die Echos der Vergangenheit auf die Zukunft des Sounds treffen. Scientist vermischt analoge Wärme mit experimentellem Drift und nimmt uns mit auf eine Klangreise durch Raum und Zeit. Er erkundet Frequenzen, bei denen die Bässe wie kosmische Wellen vibrieren. Dabei bleiben Scientists Markenzeichen, das Live-Mixing und die Konzentration auf den Klang. Und diese sind durchgängig präsent, was von abstrakteren Beiträgen von Blanc du Blanc überlagert wird. Traditionelle Dub-Motive werden durch gefilterte Synthies, Ambient-Texturen und subtile Dissonanzen ersetzt. Hier geht es definitiv nicht um den Rhythmus, sondern um die Stimmung. Die Struktur weicht definitiv einem tonalen Drift. Für mich steht fest: Das ist Musik zum Abhängen und Treibenlassen.
Obwohl die Karriere der Gladiators mehr als 40 Jahre umspannte, standen sie meines Erachtens nicht in der ersten Reihe der Jamaikanischen Vokal-Trios. Dennoch haben die Gladiators die Entwicklung der jamaikanischen Musik von Rocksteady über Roots bis hin zum modernen Reggae souverän gemeistert. Wie viele Bands hatten auch sie ihre Blütezeit von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre.
Mit der Veröffentlichung von „Gladiators: Roots Natty“ (Tabou1) zum Record Store Day erhalten Reggae-Fans eine schöne Zusammenstellung einiger ihrer frühen Stücke aus der Blütezeit der Roots-Ära, als Tony Robinson noch Produzent der Gladiators war. Einzige Ausnahme ist der Opener „Give Thanks And Praise“ – eine seltene Yabby You-Produktion. Die Lead Vocals stammen von Clinton Fearon und auf dem nahtlos anschließenden Toast ist der im April 2021 verstorbene DJ Trinity a.k.a. Junior Brammer zu hören. Die meisten der 11 Tracks auf „Roots Natty“ sind seltene jamaikanische Singles und Maxis, die bisher weder auf LP noch digital erhältlich waren. Auf dem Album sind noch die Originalmitglieder Albert Griffiths, Clinton Fearon und Gallimore Sutherland zu hören. Insgesamt repräsentiert „Roots Natty“ die Essenz feiner, zeitloser jamaikanischer Musik. Die Compilation enthält zweifellos das eine oder andere Stück, das man so noch nie gehört hat. Die meisten kennen sicherlich „Jah O Jah O“, einen der mitreißendsten Tracks des Albums, mit seiner dreckigen, fetten Bassline und dem sofort wiedererkennbaren Refrain. Weniger bekannt dürften die Dub-Version von „Till I Kiss You“ oder die Ganja-Hymne „Light Up Your Spliff“ sein. Mit insgesamt nur 11 Tracks ist „Roots Natty“ etwas kurz geraten, aber mir gefällt alles an dieser Veröffentlichung. Großartiger Gladiators-Gesang, dazu einige Bonus-Dubs von „Give Thanks“ und „Nyabinghi Marching“. Alles bisher unveröffentlichte Aufnahmen, extended Versions und jamaikanische Mixe, die angeblich härter, dreckiger und basslastiger klingen als das, was für den Rest des westlichen Musikmarktes produziert wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Aufnahmen, die ursprünglich nur in kleinen, exklusiven Auflagen auf Jamaika veröffentlicht wurden, die ungeschönte, authentische Energie der Gladiators vorbildlich repräsentieren.
Bei den Zion I Kings weiß man nicht so recht, was man von den Herrschaften halten soll. Diese Kings sind – wir erinnern uns – die vereinigten Protagonisten der Zion High, I Grade und Lustre Kings-Produktionsställe. Viel mehr mag man darüber nicht sagen; Näheres kann man den diversen dubblog.de-Kritiken früherer Zion I Kings-Releases entnehmen – wobei man sich da nicht allzu viel Bemerkenswertes erhoffen darf. Diese Kritiken beziehen sich naturgemäß lediglich auf deren Dub-Alben; der Hauptaugenmerk der Kings liegt hingegen auf den Vokal-Produktionen für Akae Beka bis Protoje – zumindest legt das die Anzahl der Vocal-Releases nahe. Dabei finden die Produzenten schon mal den einen oder anderen ihrer eigenen Tracks so cool, das sie ihm ein Dub-Treatment gönnen. Das hat noch bei Stücken ihrer Dub Album-Premiere, „Dub in Style“ bestens funktioniert – auch, weil man das Produkt als Vermächtnis von Style Scott sehen kann. Dann ging’s leider bergab, wobei mit dem völlig überproduzierten und sinnfreien („ich leg‘ jetzt mal ein Sammelsurium an asiatischen Instrumenten d’rüber“) Instrumental/Dub-Album „Kung Fu Action Theatre“ von Christos DC wohl der Tiefpunkt erreicht wurde. Wesentlich besser das für Protoje eingespielte „In Search of Zion“-Album: Hier wurden Roots-Tracks rund um die Vocals von Protoje‘s „In Search of Lost Time“-Release geschmiedet und die Dubs dazu gleich mitgeliefert. Und es zeigt sich: Es sind die Vocal-Snippets, insbesondere Protoje’s Hook-Lines, die diesen Dubs Character und Wiedererkennbarkeit geben. Ohne die hätten wir’s wohl mit gesichtslosem Dub-Einheitsbrei zu tun.
Was uns direkt zum aktuellen „Live Free“-Album (I Grade Records) der Zion I Kings bringt. Was soll man dazu noch sagen außer „Sind das Instrumentals oder Dubs oder kann das weg?“ Gleich vorab: Die Tracks sind wie immer superb, sprich makellos, produziert – so sauber, dass man sich geradezu Ecken und Kanten herbei wünscht – oder irgend etwas, dass die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Das bleibt freilich Wunschdenken: Alles ist schön ausgewogen, da stört nichts, quasi eine perfekt runde Sache – schmeckt aber auch fade wie eine Kaffeebohne durch drei Liter Wasser geschossen. Man darf sich auch diesmal getrost die Frage stellen: Ist das schon Fahrstuhlmusik oder fehlen da lediglich die Vocals, um die Produktion noch auf Spur zu bringen? Der Kunde möge entscheiden.