Greensleeves hat sich vom Darwin-Jahr 2009 inspirieren lassen und begeht Charles Darwins zweihundertsten Geburtstag mit den Evolution Of Dub-Boxsets (Greensleeves/Groove Attack). Wobei zur Zeit widersprüchliche Informationen darüber kursieren, ob nun vier oder sieben Boxen geplant sind. Tatsache ist jedenfalls, dass mir drei Boxen vorliegen: Vol. 1 – The Origin Of The Species, Vol. 2 – The Great Leap Forward und Vol. 3: The Descent Of Version. Jede dieser Boxen enthält vier klassische Dub-Alben im Reprint des Original-Covers. Damit hat Greensleeves es sich ziemlich leicht gemacht, denn statt die Evolution anhand wichtiger Stücke nachzuzeichnen – was eine gewaltige Recherche- und Lizensierungsarbeit gewesen wäre – beschränkte man sich auf die Wiederveröffentlichung einiger Alben. Dummer Weise muss die Evolution aber ohne Epoche machende Werke von z. B. Lee Perry, Yabby You, Augustus Pablo oder Glen Brown auskommen, was den durch den Titel der Serie erhobenen Anspruch recht fragwürdig erscheinen lässt. Daher ist es sinnvoller, die Serie als eine Sammlung schöner, klassischer Dub-Alben der 1970er (vielleicht später auch der 1980er?) zu verstehen und sich über die Evolutionstheorie á la Greensleeves nicht den Kopf zu zerbrechen.
Schauen wir uns die vorliegenden Boxen doch eimal genauer an. Vol. 1. beginnt mit einer kleinen Sensation, nämlich einem ultra-raren Werk, das zugleich eines der ersten Dub-Alben überhaupt war: „Dub Serial“. Joe Gibbs veröffentlichte es im Jahr 1972 in einer minimalen Auflage und verkaufte es für 50 Dollar pro Stück (ein „normales“ Album kostete zu jener Zeit rund 4 Dollar) vornehmlich an Sound System-DJs. Die wohlhabenen Hörer bekamen darauf eine Menge bekannter Rhythms wie „Satta A Massa Gana“, „Joe-Frazier“, „Money in My Pocket“ oder „Rainy Night in Georgia“ zu hören, spartanisch gemixt und mit langen Drum & Bass-Passagen. Die anderen drei Alben der Box wurden vom damals noch jungen König des Dub, King Tubby, gemixt: „“Dub From The Roots“, „The Roots Of Dub“ und „Dubbing With The Observer“. „Dub From The Roots“ und „The Roots Of Dub“ waren die ersten beiden LPs, auf denen King Tubby als Artist genannt wurde. Mit prominent auf dem Cover platzierten Schwarzweißaufnahmen von Tubby am Mischpult, begründeten sie den Ruhm des Soundtüftlers. Tubby remixt auf beiden Alben den typischen Bunny Lee-Mid-70ies „Flying Cymbals-Sound“, dass es eine Freude ist. Vor allem im Kontrast zu dem zwei Jahre älteren „Dub Serial“ zeigt sich Tubbys Mixing-Talent in voller Größe. Das 4. Album, „Dubbing With The Observer“, stammt natürlich aus der Feder von Winston „Niney“ Holness und featurt einige seiner klassischen Dennis Brown-Rhythms wie „Cassandra“, „No More Will I Roam“ und „I Am The Conqueror“. Auch hier sorgte King Tubby für pure Dub-Magie. Niney lizensierte das frisch gemixte Dub-Album stante pede nach England und verkaufte nur zwei Jahre nach der Erfindung von Dub-Alben bereits beachtliche Stückzahlen. Dub war Overseas angekommen.
Box Nr. 2 beginnt mit dem Album „Bunny Lee & King Tubby Present Tommy McCook And The Aggrovators – Brass Rockers“ und präsentiert das, was später „Instrudubs“ genannt werden sollte: Dubs mit Overdubs. Bunny Lee lieferte Rhythm Tracks, wie „A Love I Can Feel“, „Dance In A Greenwich Farm“ oder „Dance With Me“, Tubby mixte Dubs daraus und Tommy McCook improvisierte anschließend seine Saxophon-Soli darüber. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, wie unschlagbar ökonomisch der Reggae funktionierte – und welche Innovationen diese Ökonomie hervor brachte. Während „Brass Rockers“ ein Experiment war, dessen Erfolg nicht zu kalkulieren war, zielte das zweite Album der Box, „ The Aggrovators – Rasta Dub 76“, auf den Markt der immer größer werdenden Dub-Fangemeinde, die in Scharen die Plattenläden stürmte und stets die B-Seite einer Singe vor der A-Seite hören wollte. Tubbys Name auf dem Label verkaufte die Platten. In diesem Fall jedoch, zeichnete Tubbys Mixing-Lehrling Phillip Smart für die Dubs verantwortlich. Während Smart, Prince Jammy und später auch Scientist die Dubs mixten, konnte Tubby sich wieder den lukrativeren Tätigkeiten widmen, nämlich Fernseher und Radios reparieren. Inzwischen war die Dub-Evolution im Jahre 1977 angelangt und Bunny Lee (eigentlich sollte die Serie besser „The Evolution of Bunny Lee heißen“) mietete das Channel One Studio um dort „ Aggrovators Meets The Revolutionaries At Channel One Studio“ aufzunehmen. Ein überaus populäres Dub-Album mit kraftvollen, teils von Sly Dunbar gespielten Rhythms im überragenden Sound des Hookimschen Studios. Doch die eigentliche Attraktion des Albums ist die fantastische Horn-Section, die mit ihren Jazz-Improvisationen und Melodie-Fragmenten virtuos alle Stücke garnierte. Mit dem letzten Album dieser Box kommt noch einmal Niney zum Zuge: „Sledgehammer Dub“. Mitte der 1970er Jahre erschien jede Single mit einer Dub-B-Seite. Es dauerte nicht lang, bis dieses Prinzip auch auf Alben angewendet wurde, und so veröffentlichte Niney 1977 mit „Sledgehammer Dub“ das Dub-Counterpart zu Dennis Browns „Deep Down“-LP. Da Niney nur rund 400 Pressungen nach England schickte, die zudem in einem unbedruckten Cover ohne Tracklisting verkauft wurden, zählte „Sledgehammer Dub“ in Auktionen zu den höchst gehandelten Dub-Werken. Nun ist das rare Werk leicht zugänglich – auch ein Resultat der Evolution.
Werfen wir noch einen Blick auf die bislang letzte, dritte CD-Box. In ihr stecken wohl bekannte Dub-Alben, die wahrscheinlich jeder Dub-Freund bereits als Viny-LP im Plattenregal stehen hat: 1. „The Revolutionaries: Negrea Love Dub“, 2. „The Revolutionaries: Green Bay Dub“, 3. „The Revolutionaries: Outlaw Dub“, 4. „The Revolutionaries: Goldmine Dub“. Es ist unübersehbar, das gegen Ende der 1970er Jahre die Revolutionaries und mit ihnen das Channel One-Studio die führenden Instanzen im Reggae-Business waren. Und es ist sehr wohltuend, dass die Evolution neben Bunny Lee auch andere Produzenten hervor gebracht hat. Zum Beispiel Linval Thompson, der die ersten drei Alben dieser Box produziert hat und dessen Vocals immer wieder zwischen den Beats hervorblitzen. Der wahre Star dieser Alben ist jedoch Sly Dunbar, der hier seinen „Dubble Drum-Sound“ im Perfektion vorexerzieren kann. Es war die Zeit, in der die Rhythms langsamer wurden und mehr „Luft“ bekamen. Eigentlich begannen damit ideale Bedingungen für Dub, doch in Jamaika sank der Stern dieses Genres bereits. Nicht so jedoch in England, wo Dub ungebrochen populär blieb. Es war eine Vorahnung des aktuellen Zustands, in dem Dub eine globale, jedoch gänzlich un-jamaikanische Musikform ist. Das vierte Album im Set, „Goldmine Dub“, stammt von 1979, wurde von Jah Lloyd produziert und von Prince Jammy gemixt. Es ist sowohl vom Mix, vom Sound sowie wie von Sly Dunbars Spiel schlicht superb. Stilistisch war der jamaikanische Dub hier auf dem Höhepunkt. Das damals junge Label Greensleeves lizensierte „Goldmine Dub“ und brachte es als eine der ersten Greensleeves-Veröffentlichungen in die Plattenläden. Aber das ist eine andere Entwicklungsgeschichte …
Ein Album, das ebenfalls gut in die „Evolution Of Dub“ gepasst hätte ist „Pleasure Dub“ von Tommy McCook & The Supersonics (Pressure Sounds/Groove Attack), denn die Dubs, die hier zu hören sind, stammen aus dem Treasure Isle-Studio – dem Ort also, an dem Dub erfunden wurde. Bunny Lee beschreibt den historischen Moment so: „Tubby und ich trafen uns oben in Duke Reids Studio, wo der Sound-Man Ruddy Redwood und der Haus-Engineer Byron „Smithy“ Smith Dub Plates aufnahmen. Bei einem Stück vergaß Smithy rechtzeitig die Gesangsspur anzuschalten, weil er durch eine Unterhaltung mit Tubby und mir abgelenkt war. Als er den Fehler bemerkte und die Aufnahme stoppen wollte, sagte Ruddy nur: „No, make it run“. Tags drauf spielte Ruddy den Song im Sound System und legte anschließend das „missratene“ Dub Plate auf. Die Leute waren begeistert und sangen den Song zu dem bloßen Rhythm Track. Ruddy musste die Platte fünf oder zehn Mal auflegen. Es war ein Riesenerfolg.“ Evolutionstechnisch war dies der Moment, der belebte von toter Materie schied – oder aber der Urknall des Dub, je nach Sichtweise. Auf jeden Fall aber ein Moment, der in der Dub-Evolution nicht fehlen darf, auch, wenn es sich bei diesen frühen Dub Plates lediglich um „Versions“, also um unbearbeitete Rhythm Tracks handelte. Nach dem Tod von Treasure Isle-Boss Duke Reid übernahm dessen Neffe Errol Brown die Kontrolle am Mischpult und mixte aus den alten Aufnahmen der 1960er Jahre drei echte Dub-Alben: „Treasure Dub Vol. 1“ und „Vol. 2“ und „Pleasure Dub“. Während erstere vielfach rereleased wurden, harrte das vielleicht beste Album von den dreien, „Pleasure Dub“, geduldig seiner Wiederentdeckung. Nun liegt es vor, soundtechnisch bearbeitet und um sechs Bonus-Tracks erweitert. Von „Dub“ ist auf dem Album allerdings nicht allzu viel zu vernehmen, wofür man aber insgeheim dankbar ist, denn ein richtiger Dub Mix würde ja bedeuten, auf die wunderschönen Arrangements der Rhtyhm Tracks verzichten zu müssen, die grandiosen Bläser- oder Orgelmelodien zu verpassen oder den typischen, warmen, volltönenden Treasure Isle-Sound nur in Fragmenten zu hören. Zum Glück – kann man da nur sagen – fand der Dub-Urknall auf Vierspur-Tonbändern statt!
Von den Anfängen des Dub machen wir jetzt einen Riesenschritt in die Gegenwart, wo Noiseshaper mit dem neuen Album „Satellite City“ (Cat‘n Roof/Groove Attack) den aktuellen Status Quo des Genres beschreibt. Und dieser liegt bereits jenseits der engen Grenzen des Reggae. Doch das Herz des Dub – der deepe Groove, warme Sound und melodiöse Bass – schlägt noch immer am rechten Fleck, weshalb sich auf Satellite City Genres wie Soul, Deephouse, Elektronic und Reggae organisch und selbstverständlich zu einem großen Ganzen vereinen: zu Dub 2009! Die zehn frischen Tracks von Axel Hirn und Flo Fleischman klingen mal nach On U-Sound, mal nach Dubhouse á la Rhythm & Sound, mal nach Leftfield und meist nach Different Drummer – und sie haben stets einen lässigen Pop-Appeal, der nicht unwesentlich von den engagierten Gast-Vokalisten wie Juggla, Jackie Deane oder Wayne Martin eingebracht wird. Ich liebe Noiseshaper ja vor allem für ihre deepen Shuffle-Beats, wie er z. B. auf dem Song „Sod‘s Law“ erklingt. Hier wird er kongenial von weichen weiblichen Soul-Vocals komplementiert. Dub kann so viel sein. Er hat sich im Laufe seiner Evolution weniger zu einem spezifischen Musikstil in einer ökonomischen Nische entwickelt, als viel mehr zu einem universellem Prinzip, das eine Vielzahl musikalischer Genres durchwirkt.
Diese These lässt sich auch sehr schön am neuen Album „Dr. Boondigga & The Big BW“ (The Drop/Roughtrade) von Fat Freddy‘s Drop nachweisen. Nachdem die Freddys ihr Debutalbum „Based On A True Story“ 2005 mit Vehemenz aus dem fernen Neuseeland in das Wahrnehmungsfeld hiesiger Dub Enthusiasten schleuderten und damit einen beispiellosen kommerziellen Erfolg erzielten, folgt nun das mit hohen Erwartungen bedachte Nachfolgewerk. Doch die Neuseeländer entzogen sich dem fast vierjährigen Erwartungsdruck ganz einfach dadurch, das sie das taten, wofür Dub (laut Axel Hirn von Noiseshaper) eigentlich steht: Sie durchbrachen die Konventionen und liefern nun folgerichtig ein Album, das enttäuscht, überrascht, begeistert. Sie selbst bezeichnen ihre Musik als „Beat Reduction & Sonic Finetuning“ und lassen sie stilistisch zwischen Blues, Elektronik, Reggae und Funk changieren. Wäre da nicht das latent wirkende Dub-Prinzip, das die sehr unterschiedlichen Tracks zusammen hält, dann hätten wir hier eine reichlich disparate Kompilation. So aber – und gerade auch durch die ausgeklügelte Dramaturgie der Songabfolge – entsteht ein hoch interessantes, anspruchsvolles und beseeltes Album, das letztlich vielleicht doch eine logische Weiterentwicklung von „Based On A True Story“ ist.