Der Auftakt von „Dubs of Perception“, dem neuen Album von Zion Train, ist ein kalkulierter Schock: Aus dem Nichts hallen archaisch anmutende Stammesgesänge, roh, ungestimmt, wie eine Beschwörung am Lagerfeuer. Kaum hat man sich auf diesen pseudoethnografischen Trip eingelassen, wuchtet ein monotoner Sub?Bass heran, so dick und stoisch, dass er die Stimmen beinahe verschluckt. In der nächsten Minute prallen diese beiden Pole immer wieder aufeinander?–?ein zeremonielles Echo und eine tieffrequente Wucht, die zusammen eigentlich nicht funktionieren dürften. Dann ein Break. Klangebenen verzahnen sich und der eigentliche Dub beginnt, der weder Roots?Tradition noch Club?Schema bedienen will. Genau in diesem Moment wird klar, welches Spiel hier gespielt wird: Erwartung erzeugen, Erwartung zerreißen, Kontrast auf Maximum, und dann alles in einen neuen Kontext bringen.
„Ich habe dieses Mal bewusst einen anderen Ansatz gewählt.“ erklärt Neil Perch, Produzent und treibende Kraft hinter Zion Train. „Im Studio habe ich geplant, neue Technologien mit alten, fast schon vergessenen Methoden zu verbinden. Ich wollte wieder zurück zu den Wurzeln des Live?Dub?Mixings – mit einem 40?Jahre alten, restaurierten 32?Kanal?Analogpult. Dieses Mischpult hat Geschichte, es war zum Beispiel in den legendären Music?Works Studios auf Jamaika im Einsatz.“
Trotzdem klingt das Album keineswegs museal, sondern überraschend gegenwärtig. „Gleichzeitig habe ich aber moderne Effekte integriert, wie das Zen?Delay und eine neue Version des Roland?TB?303 – das ist die klassische Acid?House?Bassmaschine. Diese Kombination aus Alt und Neu macht den Sound des Albums aus.“ In den tiefen Frequenzen brummt also Vergangenheit, darüber flirrt das „Hier und Jetzt“, gestützt von Cara?Jane?Murphys (sehr sporadischen) Gesangslinien, Roger?Robinsons Spoken?Word?Akzenten und der energiegeladenen Zion?Train?Bläsersektion. Gastmusiker wie Paolo?Baldini oder die Veteranen Trinny?Fingers und Blacka?Wilson füllen das Klangbild mit einem Selbstverständnis, das nur entsteht, wenn Studio?Sessions noch echtes Zusammenspiel bedeuten.
Das zentrale Prinzip des Albums bleibt jedoch die Unvorhersehbarkeit: „Beim analogen Mixing ist alles impulsiv.“, sagt Neil. „Ich stelle den Mix grob ein, wähle die Effekte – aber ab dem Moment, wo ich auf Play drücke, ist es reine Improvisation. Da kannst du nichts mehr durchplanen. Du folgst einfach dem Vibe, und das bringt Seiten meines künstlerischen Charakters zum Vorschein, die bei komplett durchdachten Produktionen nie auftauchen würden. Genau das macht die Arbeit spannend. Auch nach über 35?Jahren überrascht mich dieser Prozess immer wieder selbst.“ Diese Haltung spürt man in jedem Stück. So zum Beispiel in „Travelling“, das mit einem Burning Spear-Sample beginnt und dann zu einem 303-Gewitter wird, als wolle die Maschine die Grundfesten des Subwoofers testen. Dann gesellt sich eine liebliche Flötenmelodie hinzu – schräger lassen sich Dubs kaum komponieren. Dass diese Ästhetik nahtlos an „Siren“ anknüpft, bestätigt Neil: „Es gibt eine klare Verbindung zu meinen frühen Sachen. Damals in den 90ern habe ich viel mit Acid?House?Maschinen gearbeitet. Auf dem Album „Siren“ hatte ich sie dann zum letzten Mal eingesetzt. Jetzt bin ich mit meinem Equipment wieder in diese Richtung zurückgegangen. Vor allem, weil ich diesen Klang liebe?–?aber auch, weil mich das, was ich in den letzten fünf bis acht Jahren in der Dub?Szene gehört habe, ziemlich gelangweilt hat. Ursprünglich mochte ich Dub, weil er im Vergleich zum Reggae spannend war. Reggae wurde meiner Meinung nach schon in den 1990ern langweilig und ist es bis heute. Also wandte ich mich Dub zu, weil er in den Achtzigern und Neunzigern noch aufregend war: neue Ideen, neue Technik, viele neue Gruppen. Doch während sich das Dub?Virus verbreitete?–?was einerseits großartig ist, weil nun die ganze Welt Dub hört?–?wurde die Musik für mich irgendwann ebenfalls langweilig.“ beschreibt Neil seine musikalische Entwicklung. „Technologisch versuche ich beim Musikmachen stets, mich weiterzuentwickeln, anzupassen und zu erneuern. Mich motiviert vor allem: Klänge zu erschaffen, die nicht ständig auf die heutige Dub? und Reggae?Sprache zurückgreifen – denn die empfinde ich als vollkommen vorhersehbar, kommerziell und uninspirierend. Zu viel Musik klingt exakt gleich, ist voller Klischees, kultureller Aneignung und falsch verstandener Konzepte – all das meide ich konsequent.“
Mit „Dubs?of?Perception“ liefert er nun Material, das diesem Dub-Mainstream zuwider läuft – Tracks, die sich nicht in einem simplen Steppers-Beat erschöpfen, sondern sich erst durch wiederholtes Hören erschließen.
Gerade darin liegt die Stärke des Albums: Es fordert Zuhören, ohne sich der Tanzbarkeit zu verweigern. Die Live?Erfahrung der Band – 2024 erneut auf Bühnen von Mexiko bis Kroatien erprobt – scheint ins Studio hineinzuwirken. Modulationen, Delays und abrupt gesetzte Breaks erinnern an jene Momente, in denen Neil während eines Konzerts den Hallfader hochreißt, bis der Raum nur noch aus Echo besteht. So schafft „Dubs?of?Perception“ das Kunststück, gleichzeitig Rückschau und Zukunftsentwurf zu sein. Die handwerkliche Sorgfalt, mit der Neil seine Tracks komponiert, verbindet sich mit der Lust am Risiko, neue Verbindungen zu knüpfen und Mainstream-Pfade zu verlassen. Wenn Dub heute oft wie ein Genre klingt, das seine eigenen Rituale endlos wiederholt, legt Zion?Train genau dort den Hebel an: Neil nimmt das Ritual ernst, aber er variiert es – und zwar so radikal, dass man am Ende eines Tracks das Gefühl hat, eine vertraute Sprache neu gelernt zu haben. Wer wissen will, wohin sich Dub jenseits der gängigen Steppers?Schablonen bewegen kann, findet hier eine faszinierende und überaus leidenschaftliche Antwort.