Ich bin sehr d’accord damit, Russland und russische Produkte zu boykottieren. Keine Frage. Aber wie sieht es mit dem Album eines russischen Sound Systems aus? Ich denke, hier gilt der Boykott nicht – und zwar aus drei Gründen: 1. Ein russisches Dub-Album ist per se kein kommerzielles Produkt. Es nicht zu hören, fügt der russischen Wirtschaft somit keinen Schaden zu – es zu boykottieren wäre daher sinnlos. 2. Freie (!) Kunst und Kultur dient fast immer der Verständigung von Menschen und damit dem Frieden. 3. Ich gehe fest davon aus, dass die Akteure eines russischen Sound Systems der Staatsmacht gegenüber subversiv und kritisch eingestellt sind. Daher befinden wir uns auf der gleichen Seite. Daraus folgt: Ich möchte euch guten Gewissens auf das Album „Dublaboratory Vol. 1“ (Dubophonic) vom Culture Horn Sound System aufmerksam machen. Es handelt sich dabei sicher nicht um ein Dub-Meisterwerk, aber vielleicht haben die Culture Horn-Dubheads ein wenig Solidarität der Dub-Gemeinde verdient. Das Sound System aus Kremenki in the Kaluga-Region hat hier zur Feier seines zehnjährigen Bestehens die vier besten Produktionen des eigenen Oeuvres versammelt und präsentiert sie im Dublaboratory in je zwei Versionen: als Instrumental und als Dub. Ich tippe mal auf volldigitale Produktionen, Steppers Style – aber nicht brutal. Hört mal rein und schickt ein paar Kudos in den russischen Untergrund.
Autor: René Wynands
Nocturnal Emissions: In Dub
Oha, um ein Haar hätte ich Nocturnal Emissions als unbekannten Bedroom-Producer abgetan. Doch die Web-Recherche offenbarte ein ganz anderes Bild: Die Nocturnal Emissions gibt es seit seit 1980! Damals war es noch eine echte Rockband, die Industrial und Punk spielte. In den 1990er Jahren folgte die elektronische Phase, an die sich dann eine Minimal- und Downtempo-Phase anschloss. Es gibt in dem Oeuvre der Londoner Band (die seit etlichen Jahren nur noch aus dem Gründer Nigel Ayers besteht) sogar zwei Dub-Alben jüngeren Datums. Das nun neu erschienene Album „In Dub“ (Holuzam) präsentiert eine Auswahl von acht Tracks, die alle von diesen beiden Alben stammen. Also nicht unbedingt brandneues Material, aber dennoch ziemlich spannend, denn Nigel Ayers schert sich natürlich kein Bisschen darum, wie guter Dub zu sein hat. Statt dessen liefert er äußerst schräge Minimal-Produktionen, die ohne den eindeutigen Albumtitel wahrscheinlich kaum als Dub erkennbar wären. Mit dem Mind-Set „Dub“ jedoch lässt sich das Album als großes Experiment verstehen: Wie stark lässt sich die Musik abstrahieren, ohne die Zuordnung „Dub“ gänzlich zu verlieren? Oder anders gesagt: Wie weit lässt sich Dub reduzieren, bis er aufhört, Dub zu sein? Die erstaunliche Erkenntnis: Ziemlich weit. Doch es geht Ayers keineswegs nur um Minimalismus. Seine sparsamen Tonfolgen sind interessante Hörerlebnisse und entwickeln teils sogar einen beachtlichen Groove. Wer mal über den Tellerrand des konventionellen Dub hinaus blicken will, sollte sich den Nocturnal Emissions (den feuchten Träumen) einfach mal genussvoll hingeben.
Kanka & Art-X: Daydream
Kanka ist einer meiner Lieblinge. Eine Präferenz von mir, für die ich mich schon oft rechgtfertigen musste. Immerhin steht Kanka für sehr harten Stepper Sound, was in der Szene gerne als „seelenlos“ abgetan wird. Ich sehe das anders und schätze Kanka dafür, dass er diese maximal energetische Musik aus Bits & Bytes zusammenzucoden weiß. Auch bewundere ich seine Mixing-Virtuosität, die vor allem live absolut beeindruckend ist. Normalerweise agiert der Franzose allein. Ich stelle mir vor, wie der Dub-Nerd nachts alleine in seinem Studio sitzt und an Beats schraubt, bis seine Finger wund sind oder ihm die Ohren abfallen. Nun aber stellt er seine Musik in den Dienst des Melodicaspielers Art-X. Und plötzlich klingt auf „Daydream“ (ODGPROD) alles so sanft und kultiviert. Wo ist „mein“ Kanka geblieben? Und mal ehrlich, eigentlich ist doch klar, warum die Melodica als Kinderinstrument gilt. Ihr Klangspektrum ist wirklich extrem klein, was zwangsläufig dazu führt, dass man sich an ihrem Klang schnell satt hört. Deshalb kann ich den wenig prägnanten Melodien Art-X nicht viel abgewinnen. Kurz: Ein „normales“ Kanka-Album wäre mit lieber gewesen.
Weiter geht’s mit: Melodica! Ja, auch der britische Reggae-Producer I David hat eine Vorliebe für dieses Instrument. Deshalb beginnt sein neues Album „Dub Lockdown“ (Idavid Productions), das er zusammen mit Dougie Conscious aufgenommen hat, auch mit einem Melodica-Dub. Aber zum Glück bietet Track 2 schon ein anderes Lead-Instrument: Das Synthie-Keyboard. „Oh mein Gott“, denkt man unweigerlich, „was wird das für ein Album?“ Tatsächlich aber wird das Album gar nicht sooo schlecht. Zwar gibt es immer wieder Melodicas und Synthies zu hören, aber dazwischen erklingen dann auch andere Stücke, mit guten Basslines und nicen Arrangements. Ich frage mich, ob die beiden Produzenten hier ihre Solo-Produktionen einfach kombiniert haben, denn nur so ließe sich erklären, warum ca. 50 Prozent des Albums gut ist, während die andere Hälfte …
Wofür steht Addis Pablo – der Sohn von Augusts Pablo? Richtig: Melodica! Womit wir wieder beim Thema wären. Vor einigen Wochen bereits erschien sein Album „Melodies from the House of Levi“ (Jahsolidrock) und es knüpft nahtlos an dessen Vorgänger an. Ach Jahre nach „In My Father’s House“ geht es wieder um ein Haus, wieder wird das Album von einem schönen Cover-Artwork von Abbayahudah geschmückt, wieder wurde es im Tuff Gong Studio aufgenommen und wieder spielt Addis Pablo Melodica – und wieder ist es ein invertiertes Showcase-Album. „Invertiert“? In der Tat! Das Label Jahsolidrock aus Amsterdam hatte hier eine clevere Idee: In dem Wissen, dass niemand ein Album mit ununterbrochenem Melodicaspiel überleben würde, beschloss Produzent Marc Baronner, auf jeden Malodica-Track die originale Vocal-Version folgen zu lassen – also in „invertierter“ Reihenfolge. Das erlaubt es, Addis Pablo zum Titelhelden zu erheben und trotzdem die besten Tracks des Back-Katalogs wieder zu verwerten. Gutes Marketing, aber auch in ästhetischer Hinsicht eine gute Entscheidung, denn das Album profitiert enorm von dieser Durchmischung. Pablo verblasst neben den Originalen zwar ein wenig, aber das Gesamtwerk ist extrem unterhaltsam.
SAAND: In Dub Vol. 3
Michael Sandler ist ein in Los Angeles lebender House-Produzent, der gelegentlich Dub-Alben veröffentlicht. Soeben ist „In Dub Vol. 3“ (Tierra Sounds) erschienen. Ich finde die Produktionen genrefremder Musiker meist recht spannend, da diese oft aus dem bekannten Kanon (dank Nichtkenntnis) ausbrechen und folglich oft unkonventionelle Musik hervor bringen. Bei SAAND könnte dies auch der Fall sein, obwohl seine Dubs nicht wirklich originell sind. Aber fluffig sind sie und machen gute Laune. Fünf Tracks auf einer EP zum schnellen Verzehr zwischendurch, ein Snack für den kleinen Dub-Hunger.
Arky Starch: Bass It Up
Das erste, was mir an „Bass It Up“ (Roar Like a Bass), dem neuen Album von Arky Starch aufgefallen ist, war sein tighter Sound. Der Bassist aus Belgien scheint herausragende Mastering-Skills zu besitzen! Respekt. Doch dann sah ich, dass genau diesen Part niemand anderes verantwortet als Mr. Dubmatix. Doch der Super Dubber aus Toronto vergolden hier nur, was ohnehin schon ordentliche Substanz hat. Arky Starch hat ihm elf solide Dubs geliefert. Schön melodiöse Kompositionen, abwechslungsreich mit Samples angereichert, arrangiert und gemixt, alles sehr uplifting und gut gelaunt. Gut so.
Es gibt Alben mit langer Vorgeschichte. „El Michels Affair meets Liam Bailey – Ekundayo Inversions (Instrumentals)“ (Big Crown Records) ist ein solches. Der Soul-Musiker Liam Bailey veröffentlichte Ende 2020 sein Debütalbum Ekundayo auf Big Crown Records. Im Sommer 2021 schnappte sich ein anderer Artist des Labels, El Michels Affair, die Bänder und produzierte mit „Ekundayo Inversions“ eine spannende Dub-Version des Albums. Nun folgt Kapitel 3: Die Ekundayo Inversions (Instrumentals). Es handelt sich also um die dritte Ausgabe der „Ekundayo“-Tracks, denn Grundlage sind sowohl Instrumentalversionen vom Ekundayo-Album, als auch vom Ekundayo Inversions-Album, jetzt allerdings als Instrumentalversionen. Vergleicht man alle drei Inkarnationen, so fällt auf, dass sich diese gar nicht so wesentlich voneinander unterscheiden. Das Original bleibt stets tonangebend – was aber alles andere als negativ ist, denn die Ekundayo-Produktionen sind einfach großartig. Kleine, innovative Meisterwerke im Niemandsland zwischen Retro-Geschrammel und Experiment, zwischen Reggae und Soul, zwischen Aha und Oh! Ich kann sie jedenfalls andauernd wieder mit viel Genuss hören. Solche Sounds blasen mir die Ohren frei, wenn sich dort zu viel Bass-Gewaber angesammelt hat. Und während im Reggae die Instrumentals meist die langweiligste Version sind, könnte sie in diesem Fall sogar die aufregendste sein.
Addis Records haben nichts mit Addis Pablo zu tun. Und deshalb auch nicht mit Dub. Vielmehr ist Addis Records ein alt gedientes Reggae-Label aus Genf, das inzwischen auf eine dreißigjährige Geschichte blickt. Beeindruckend – obwohl die Release-Liste angesichts dessen erstaunlich kurz ist. Aber egal, denn uns interessiert aktuell nur eine neue Veröffentlichung: Addis Records Meets Umberto Echo: „Riddimwise“ (Addis) – und das ist ein Dub-Album (oder wenigstens ein Instrumentalalbum). Die Rhythms sind vollständig digital – was sie auch nicht zu kaschieren versuchen. Allesamt klassische Reggae-Beats, zu denen auch Vocal-Versions existieren, die anderswo auf dem Label zu finden sind. Umberto Echo hat hier nicht als Remixer die Finger im Spiel, sondern ist Co-Produzent. Das erklärt vielleicht auch den crispen und satten Sound. Sehr harmonisch und hoch dynamisch. Gefällt mir gut. Ich könnte dem Album lediglich vorwerfen, dass es keinen erkennbaren Spannungsbogen und keine Ecken und Kanten hat. Also, dass genau das fehlt, worauf es bei guten Dub-Mixes eigentlich ankommt. Das liegt aber gewiss daran, dass „Riddimwise“ sich ehr als Versions-Compilation, statt als Dub-Album versteht.
Mysticwood: The Mystic Way of Dub
Ein Album mit einem guten Cover hat bei mir auf jeden Fall schon mal einen dicken Pluspunkt. Denn ein gutes Cover ist Kennzeichen der Wertschätzung der Musik. Wer sich als Musiker nicht um gutes Coverdesign bemüht, scheint der Meinung zu sein, dass die eigene Musik dessen nicht wert ist. Natürlich kennen wir alle Gegenbeispiele aus der jamaikanischen Musikgeschichte. Aber wenn wir an die wirklich großen Werke denken, die die Trends und Moden überstanden haben, dann sind es meist Alben mit gutem Artwork. Ob „The Mystic Way of Dub“ von Mysticwood ein großes Werk wird, sei dahin gestellt, aber das Cover jedenfalls erfüllt die Voraussetzung. Und ich muss sagen: Die Musik gefällt mir auch. Sehr sogar. Hier klingt alles so, als sei der gute, alte 70er-Dub-Sound niemals vom Weg abgekommen und konsequent in die Jetztzeit weiterentwickelt worden. Das klassische Dub-Prinzip, reloaded. Soll heißen: volle Arrangements, schöne Basslines, klassische Dub-Techniken und Produktion auf analogem Equipment – jetzt aber mit voller Dynamik, super sauberem Bass-Sound und mit einem Schuss Steppers. Es handelt sich um eine schweizer Qualitätsproduktion von Charlie Mystic, 22 Jahre alt, Multiinstrumentalist und Dub-Fanatic aus Genf, dessen Studio in unmittelbarer Nachbarschaft von O.B.F. liegt. „The Mystic Way of Dub“ ist sein Debüt – bei dem es sich im Übrigen um ein Album mit acht Tracks, aber nur vier Rhythms handelt, denn jedes Stück gibt es gleich zwei mal zu hören: ein mal als dubbiges Instrumental und ein mal als ausgewachsener Dub. Das Presseinfo kommentiert treffend: „Strictly instrumental and dubwise, no compromise, no vocals, because there’s no need!“