Auf den letzten Metern des Jahres 2023 erschienen, gehört das Album „In Dub, Vol. 1“ (Bat Records) von Pinnacle Sound für mich zu den Jahres-Highlights. Okay, ich habe Retro-Sound oft genug kritisiert und in der Tat kann man sich die Frage stellen, wie viel Sinne es ergibt, den Sound historischer Reggae-Stile nachzuspielen. Aber andererseits ist das historische Material rein quantitativ schon begrenzt – von der Klangqualität ganz zu schweigen. Wenn also neue Musik in historischem Stil entsteht, so lässt sich das leicht als eklektizistisch oder historistisch abtun, aber zugleich kann es ganz wunderbare Musik sein. Vielleicht würde es helfen, das „historisch“ zu streichen, und den Stil einfach ganz ohne implizite Wertung als das zu nehmen, was er ist: eine charakteristische Klangform. Wie wäre es also, wenn wir „Early Reggae“ einfach als Musikstil ohne historische Dimension verstehen würden? So wie z. B. Steppers oder One Drop? Obwohl der Vergleich hinkt, wäre das eine willkommene Lösung für mein Dilemma, dass mir das neue Werk von Pinnacle Sound so ungemein gut gefällt – obwohl es historisch anmutender Early Reggae in Reinform ist. Ich liebe das Album: Der Sound ist so unwiderstehlich frisch, so energetisch und so eingängig, dass es eine pure Freude ist – und sich jegliche akademische Diskussion über die Rechtfertigung von Eklektizismus von selbst verbietet. Abgesehen davon, bietet „In Dub, Vol. 1“ eine Qualität von Dub, wie sie vor 50 Jahren noch nicht existierte.
Mein neues Lieblingsalbum ist auf Bat-Records erschienen, jenem kleinen in Clermont-Ferrand ansässigen Studio und Label, dem neben Pinnacle Sound auch die Dub Shepherds angehören. Beides Schöpfer eines wunderschönen Retro-Reggaes. Beim vorliegende Dub -Album haben Pinnacle Sound und die Dub Shepherds kongenial zusammen gearbeitet, handelt es sich doch um die Dub-Version des Pinnacle-Albums „Soul Medicine“ von 2022, das seinerzeit von den Dub Shepherds gemixt (und wahrscheinlich auch mit-eingespielt) wurde. Was lag näher, als auch den Dub-Mix in die Hände der Schäfer zu legen? Und die haben fantastische Arbeit geleistet. Wollte man in einem Musikseminar erklären, was Dub ist, dann bräuchte man nur den Track „Psam 2“ von „Dub Medicine“ spielen und danach die Dub-Version „Psalm 150“ auflegen. Das Seminar könnte wortlos bleiben, denn der Dub bringt genau auf dem Punkt, worum es bei unserer Lieblingsmusik im Kern geht: Darum, mit Hilfe des Mixes ein gänzlich eigenständiges Musikstück zu kreieren. Der Unterschied zwischen den beiden Psalmen könnte – trotz identischer Materialbasis – größer nicht sein.
Auch, wenn der Psalm etwas ganz besonderes ist, so überzeugt das Album auf ganzer Länge. Jeder Dub ist ein durchkomponiertes Musikstück mit wunderbaren Arrangements, großartigen Melodien und guten Mix-Ideen, die weit über den (sparsamen) Einsatz von Hall und Echo hinaus reichen. Ein Mix, der den Stücken eine regelrechte Dramaturgie verleiht – wie ein Meta-Arrangement. Ich bin froh, dass dieses Album noch 2023 erschienen ist, kann ich auf diese Weise doch der These von gtk, dass die Jahresausbeute 2023 schlecht sei, mit Inbrunst mit voller Überzeugung widersprechen.