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Nick Sefakis: Foundation In Dub

In letzter Zeit erscheinen immer wieder Releases, die sich in erster Linie durch Sänger*innen auszeichnen, deren Stimme man durchaus das Prädikat „charakterlos“ verleihen kann. Das mag äußerst despektierlich klingen, ist aber keineswegs so gemeint. Singen per se ist nicht jedermanns Sache; nicht jede Stimme ist universal einsetzbar und nur wenige haben diesen eindeutigen Wiedererkennungswert, den ich als „stimmlichen Charakter“ bezeichnen möchte. Es ist diese einzigartige Intonation, Diktion und Manier, die – wenn man das so ausdrücken möchte – einer Stimme ihren Charakter verleihen. Das Reggae-Genre war und ist reich an diesen stimmlichen Unikaten: Michael Rose, Winston Rodney, Marcia Griffiths, Peter Tosh, Gregory Isaacs, Eek-A-Mouse, Dennis Brown, U-Roy, Earl 16, Apple Gabriel, Don Carlos, Vaughn Benjamin, Leroy Sibbles, die Marleys, usw. usf. – jede und jeder Einzelne unverwechselbar und bereits beim ersten Ton augenblicklich erkennbar. Dabei ist es völlig unwichtig ob der Ton sitzt oder ziemlich daneben geht; im Reggae sieht man das nicht so eng und macht mitunter den leicht schiefen Ton – den zwischen den Noten sozusagen – zum Stilmittel: Winston Rodney aka Burning Spear weiß davon das eine oder andere Lied zu singen; für Anthony B. ist Intonation sowieso ein lebenslanger „Universal Struggle„.

Es kommt nicht von ungefähr, dass sich im obigen Name-Dropping überwiegend die ganz Großen aus den 1970ern und 80ern wiederfinden – einer Zeit, als Major Labels dem Reggae noch großen Wert zugestanden haben – überwiegend dank Bob Marley, aber ebenso dem Hype, der nach seinem Tod entstand: Wer würde wohl den nächsten Reggae-Superstar unter Vertrag nehmen? Natürlich hat man auch schon zu Marley’s Zeiten mehr oder weniger erfolgreich andere Künstler des Genres aufgebaut; und wie das zu diesen Zeiten so war, haben die Majors eine rigorose Auswahl getroffen: nur die Besten der Besten im Sinne von Vermarktbarkeit, Wiedererkennungswert und… ja, auch Können. Ich unterstelle, dass Kriterien wie Naivität, Gefügigkeit und Manipulierbarkeit eine gewisse Rolle gespielt haben; das Investment musste sich bezahlt machen. Wenn dem nicht so war, fand man sich schnell bei kleinen und Kleinst-Labels wieder, die das Genre nach dem umsatzbedingten Desinteresse der Major Labels dankenswerterweise ins neue Jahrtausend getragen haben.

Die Musiklandschaft heute hat sich aufgrund der dahinsiechenden Musikindustrie und neuer technischer Möglichkeiten völlig verändert; die großen Umsatzfaktoren sind Live-Performance und Merchandise. Jeder – und das ist der springende Punkt – jeder, ob Musiker oder nicht, kann sich mit relativ geringem Kapitalaufwand in Eigenproduktion, -vertrieb, -vermarktung versuchen. Eine Vorauswahl der „Best of the Best“ findet nicht mehr statt und die Pyramide mit den Stufen des Erfolgs ist sehr, sehr flach geworden – im Genre Reggae, wohlgemerkt. Es bleibt der subjektiven Wertung überlassen, ob man das positiv oder negativ sehen möchte.

Kein Wunder also, dass wir uns heute mit einer erklecklichen Anzahl an Releases konfrontiert sehen, die ich als bestenfalls mittelmäßig werten möchte. Grund dafür könnte fehlende Expertise sein: Nicht jeder, der Pro Tools auf seinem Notebook installiert hat, kann produzieren. Nicht jeder, der ein Instrument besitzt, beherrscht es oder kann es dem Arrangement dienlich einsetzen. Nicht jeder, der eine Stimme hat, sollte singen – womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären und am Ende dieses kleinen Exkurses. Und dass alles wegen Nick Sefakis!

Entgegen dem vermuteten Fragezeichen im Gesicht des einen oder anderen Lesers ist Sefakis kein ganz Unbekannter: Der Mann ist Gitarrist beim kalifornischen Reggae-Rock-Pop-Konglomerat Iya Terra und verrichtet dort, wie man auf YouTube nachvollziehen kann, gute Arbeit:

Schuster, bleib‘ bei Deinem Leisten: Als begnadeter Saitenzupfer muss man nicht auch noch singen, schon gar nicht wenn’s die Stimme im Lead mangels des oben frech „Charakter“ Genannten nicht bringt. Dabei kann Nick Sefakis seine Stimmbänder durchaus sinnvoll einsetzen: Es finden sich traumhaft gelayerte, wunderbar harmonische old-school Background-Vocals auf seinem Solo-Debut „Foundation“ – und die lässt er zur großen Freude des Rezensenten auf den Dub-Counterpart „Foundation in Dub“ (Eigenverlag) so richtig zur Geltung kommen. Seidenweich setzen sie die Hook-Lines in Szene und wecken Erinnerungen an die großen Vocal-Trios á la Israel Vibration, The Viceroys / Paragons / Tamlins / Meditations / Heptones und wie sie alle heißen. Das und die Absenz bzw. die Reverb-Verarztung der Lead Vocals über weite Strecken zeichnen das Dub-Album aus, das man produktionstechnisch als gelungen bezeichnen kann: Klassische Arrangements und schöner, ausgewogener, wenn auch einen Ticken zu polierter Klang trifft auf zurückhaltenden, nichtsdestotrotz feinen Dub-Mix. Gut, ich hätte mir auf allen Tracks live-Drums gewünscht, aber man kann nun mal nicht alles haben und ich sehe die feinen, live eingespielten Bläsersätze als eine Art Wiedergutmachung. Ich will auch nicht kleinlich sein und winke selbst den AutoTune-Einsatz durch: Wenn’s passt, dann passt’s. Bei den vereinzelt eingesetzten HipHop-Beats hört’s dann wieder auf, die müssen nicht sein.

Kann man also „Foundation in Dub“ als gutes Dub-Album empfehlen? Durchaus, vor allem im Vergleich zum eher langweiligen Vocal-Album. Auch wenn Nick Sefakis das vermutlich nicht beabsichtigt hat: Die Dubs sind wie geschaffen für den Soundtrack zum Sundowner… am 7-Mile-Beach in Negril, im Alfred‘s Ocean Palace. „Life is surely what you make it so I made a dream of it“ – recht hat er, der Herr Sefakis.

Bewertung: 3.5 von 5.

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Rapha Pico & The Noble Chanters: The Glory of Dub

Rapha Pico, Sänger aus den Niederlanden, fiel erstmals mit seiner EP „Continue The Glory“ auf. In erster Linie ob seiner Stimme, die irgendwo zwischen Ras Batch und Army einzuordnen wäre – sprich einer Stimme ohne Eigenschaften, quasi der Lebensgrundlage von Background-Sänger*innen schlechthin. In zweiter Linie ob der Texte, die mit ihrer Schlichtheit und dem Bemühen einfachster Bilder über die üblichen und hinlänglich bekannten Rasta-Befindlichkeiten nicht hinausgehen. So weit, so schlecht – wäre da nicht eine sattelfeste Backing Band, die sich „The Noble Chanters“ nennt; wäre da nicht eine äußerst gelungene Produktion, wie sie klassischer nicht sein könnte:

Gut, der bemühte Rezensent findet immer etwas zum mosern – und sei es nur der Drummer, der zwar sehr schön Carlton Barrett imitiert, aber mit der Zeit nervt’s dann doch: Es gibt nun mal nur einen Carlton Barrett mit seinem außergewöhnlichen Drum-Stil; Klone kommen an ihn nicht heran und sind überflüssig – natürlich mit Ausnahme der Drummer in den diversen Wailers-Inkarnationen post-Marley.

Wenden wir uns also dem frisch erschienen Dub-Counterpart der EP zu, trefflicherweise „The Glory of Dub“ (Noble Chanters Productions) betitelt. Klanglich rauer und nicht so poliert wie das Vokal Album, stehen Drums und Bass mit erstaunlicher Dynamik im Vordergrund. Die in den Stücken immer wieder mal auftauchenden Stimm-Sprengsel sind sehr gut gewählt und geben meist die Essenz der jeweiligen Lyrics wieder. Die Dub-Effekte könnten klassischer nicht sein: Unaufgeregtes Echo und Hall ziehen sich durch‘s ganze Album; die eine oder andere Tonspur wird sanft ein- und ausgeblendet. Und das war’s auch schon, mehr braucht’s auch nicht. Das trägt Hörerin & Hörer durch sechs Tracks, die zusammen erstaunliche 42 Minuten lang dauern – während es der Vokal-Counterpart mit ebenfalls sechs Tracks lediglich auf 28 Minuten bringt. Da hat wohl jemand große Freude an extra-langen Dub Versions gehabt, und die Freude ist ganz meinerseits:

Im Großen und Ganzen ist „The Glory of Dub“ also ein gelungenes, wenn auch kein experimentierfreudiges Dub-Album, das sich mit seiner ihm eigenen Unaufdringlichkeit vortrefflich als Backgroundmusik zum Arbeiten, Lesen oder Dösen eignet. Dem Rezensenten wäre das eine glatte 4-Sterne-Bewertung wert, wenn… ja wenn es da nicht am Anfang und Ende jedes einzelnen Tracks unerklärliche und sinnlose sekundenlange Stille geben würde. Die dauert mal 5 Sekunden, mal sage und schreibe 20 Sekunden. Das ist äußerst ärgerlich, trübt das Hörvergnügen massiv und kann m.E. nicht als Stilmittel zu rechtfertigen sein. Warum hier nicht editiert wurde, bleibt wohl ein Rätsel, das vielleicht die Leser*innen dieser Rezension klären können. Bis dahin ziehe ich mit Bedauern zwei Sterne in der Bewertung ab.

Bewertung: 2 von 5.

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Dubvisionist meets Dubblestandart & Firehouse Crew

Das Echo Beach-Label versteht es, seine veröffentlichten Produktionen ein- oder mehrmals wiederzuverwerten. Das kann man mit einigem good will als nachhaltiges Upcyclen oder gar als Weiterforschen am musikalischen Mikrobiom interpretieren; in vorliegendem Fall sehe ich es aber eher als Wiederbelebungsmaßnahme für ein… nun ja, suboptimal gelungenes Album. Kurzum, Dubblestandart’s „Reggae Classics“-Kollaboration mit der Firehouse Crew hat einen kräftigen neuen Anstrich erhalten. Nachdem Paolo Baldini für sein feines Dubblestandart-Remix Album bereits zwei Tracks aufgemischt und entrümpelt hat, nimmt sich jetzt Felix Wolter aka The Dubvisionist dankenswerterweise des gesamten Albums an, dass soeben unter dem Titel „Dubvisionist meets Dubblestandart & Firehouse Crew“ (Echo Beach) erschienen ist.

Der Dubvisionist erledigt dabei seinen Job recht forsch, um nicht zu sagen: rücksichtslos, und er denkt nicht daran, Gefangene zu machen: So fliegen Paul Zasky’s steife Vocals komplett aus dem Mix und dürfen, wenn überhaupt, nur mehr als hochgradig verfremdete Schnipsel zurückkehren. So gelingt es tatsächlich erstmals, Bruchstücke der Stimme in den Dienst der Sache zu stellen und damit ein großes Manko des Original-Albums zu beheben. Auch mit anderen Tonspuren geht Felix Wolter nicht zimperlich um; Gitarren- oder Drum-Parts müssen schon mal dran glauben, um Raum für die der beabsichtigten Stimmung zuträglicheren Synths zu schaffen. Als Klangteppich spielen sie eine gewichtige Rolle im Mix und verbreiten eine getragene, mitunter mystisch-melancholische Atmosphäre, die den Grundtenor des Albums prägt.

Mir ringt diese resolute, kompromisslose Herangehensweise des Dubvisionisten einigen Respekt ab; was er aus den gegebenen Klängen noch rausholt, ist erstaunlich: Tänzelten die Originale noch allzu leichtfüßig daher, bekommt sie jetzt von ihm ein ordentliches Fundament verpasst – ein Stück wie „Hypocrite“ gerät so zum stampfenden Furiosum. Andere Tracks scheinen hingegen ätherisch zu schweben; der Opener „I’m No Robot“ beschwört schon mal mehr als eine Minute die Grundstimmung des Albums herbei – bevor mit Einsetzen der Drums Anleihe an der Hookline von Joy Division’s „Love Will Tear Us Apart“ genommen wird. Ein dramaturgischer Glanzgriff, keine Frage. Ebenso gelungen die neue, spacigere Version von Burning Spear’s „Fly Me To The Moon“ – erstaunlich, wie der neue Mix das Material belebt und eindrucksvoll demonstriert, wie zwei Dub-Mixer – Felix Wolter und Robbie Ost – ein und das selbe Material unterschiedlich interpretieren.

Nun ist es wohl so, dass zwei Herzen in Felix Wolter’s Brust pochen – da gibt’s den geschätzten Dubvisionisten, aber auch das Projekt PFL (Pre Fade Listening), dass sich mehr oder weniger der Lounge-Musik verschrieben hat. Beide beeinflussen und befruchten sich zu einem gewissen Grad gegenseitig, was zweifellos anhand von „Dubvisionist meets Dubblestandart & Firehouse Crew“ nachvollziehbar ist. Diese Mischung macht bisweilen den Reiz von Wolter’s Mixes aus, wird aber für den Dubhead spätestens dann zum Problem, wenn PFL dann doch mal das Kommando an sich reißt und einen Track wie „Babylon The Bandit“ in seichtere Lounge-Gewässer führt. Ein einmaliger Ausrutscher, der gerade noch von einer dominanten Bassline aufgefangen wird.

Soundtechnisch bewegen wir uns hier in den typischen Dubvisionist-Dimensionen: Markanter, eher mittig angelegter Bass; die Höhen zurückhaltend. Wer sich kristallklar-glitzernde Trebbles erwartet, wird enttäuscht werden. Alle anderen wissen, dass eine klangliche Hochglanzpolitur hier falsch am Platz wäre – Dub ist nun mal mehr Dampfwalze als Windspiel, mehr Gefühl denn Intellekt. Unter dieser Prämisse verwandelt der Dubvisionist einen ehemals hölzern-steifen Release in ein gefühlvolles, getragen-melancholisches, letztlich aber doch auch in ein Album mit positivem Ausblick.

P.S.: Klangtechnisch Interessierten empfehle ich, die Mixes von Robbie Ost, Paolo Baldini und vom Dubvisionisten back-to-back anzuhören; die Unterschiede sind ebenso eklatant wie erstaunlich: eine kleine Reise durch drei unterschiedliche Klangwelten.

Bewertung: 4 von 5.
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Five Star Review

Dub Spencer & Trance Hill: Tumultus II

PINK FLOYD. Ein ganzes Album schreit Pink Floyd – und ich liebe es vom ersten bis zum letzten Track und zurück: „Tumultus II“ nennt sich der neue Release von Dub Spencer & Trance Hill, und ich bin mir gar nicht so sicher ob für ihn die Kategorien „Dub“ oder gar „Reggae“ passend sind – beide waren für die Schweizer immer schon zu eng gefasst. Die Release-Info verleiht das Prädikat „psychedelischer Dub“ – vermutlich mangels einer besseren Begrifflichkeit, und der Markt verlangt nun mal nach einer Schublade. Fest steht: Die Herren beherrschen ihre Instrumente (dazu zähle ich auch das „Instrument“ Dub) dermaßen gut, dass sie damit nicht nur simpel Musik, sondern epische Klanggemälde erschaffen können. Dazu braucht’s die Freiheit, sich nicht an übliche Musikstrukturen zu halten; sich nicht in der ewigen rhythmischen Wiederholungsschleife auszuruhen, den Klangideen Zeit und Raum zum Atmen zu geben, Konzepte nach Belieben zu erstellen oder aufzugreifen und letztlich gerade auch die Freiheit, sich keinen Deut darum zu scheren was am Markt gerade gang und gäbe ist. So entstand eine Reihe großer Alben und ein ausgezeichneter Ruf, dem selbst konzeptuelle Seltsamkeiten wie „Riding Strange Horses“ und „Christmas in Dub“ nichts anhaben konnten.

Hier also ein weiteres Konzeptalbum, dass sich mehr denn je jenseits jeglicher Dub-Gepflogenheiten bewegt und vielleicht gerade deshalb ein Meilenstein im bisherigen Oeuvre von Dub Spencer & Trance Hill ist: Tumultus II, dessen kurioses Konzept aus nichts Geringerem als dem Alltag in einem antiken römischen Legionslager besteht. Da marschieren Truppen auf, Rüstungen und Waffen klirren und scheppern, Fanfaren eröffnen den Kampf der Gladiatoren und wir hören was die alten Römer sonst noch so für Lärm drauf hatten, bevor sie mutmaßlich von Asterix & Obelix vermöbelt wurden. Das Schweizer Vindonissa Museum hat im Rahmen seiner Soundwerkstatt Tumultus all diese antiken Klänge reproduziert, aufgenommen und verbindet sie mit modernen Sounds – diesmal eben mit dem von Dub Spencer & Trance Hill.

Hausmusik: Dub Spencer & Trance Hill & die Römer (© Museum Aargau)

Das Konzept hätte auch gehörig schief gehen können – etwa in Form eines platten musikalischen Alberto Uderzo und René Goscinny-Comics. Die obgenannten Fanfaren kommen dem gefährliche nahe, aber der Rest der geschätzten Hundertschaft an Geräusch-Samples wurde verfremdet, in Loops gelegt, mit Dub-Effekten bearbeitet und perfekt in eine vom bandeigenen Keyboarder Philipp Greter tadellos produzierte musikalische Reise eingebettet, die über sämtliche Dub-Plattitüden erhaben ist. Mitunter drängt sich allerdings die Frage auf, inwieweit dem Albumkonzept Rechnung getragen wurde – zumal die manipulierte Geräuschkulisse auch losgelöst davon funktioniert und als Soundtrack für vielerlei Stories herhalten könnte. 

Musikalisch kann man „Tumultus II“ als ausschweifend im allerbesten Sinn bezeichnen: Die Herren Trance & Hill nehmen sich Zeit. Das merkt man nicht nur an der Dauer der Tracks, wo man schon mal nahezu 15 spannende Minuten lang eine musikalische Idee entwickelt und sie in den verschiedensten Klangfarben und rhythmischen Facetten darstellt. Die musikalischen Strukturen und Arrangements sind so fein verwoben, dass ich auch nach gefühlten hundert Mal Anhören nicht sicher sagen kann, wann ein Track endet und der andere beginnt – abgesehen von „Gladiator“, der mit seinem platten Fanfaren-Intro die Ausnahme darstellt. Wenn also im Beipacktext zum Album von „Kopfkino“ gesprochen wird, so kann man dem nur beipflichten: Es ist eine abenteuerliche, nahezu minutiös angelegte Reise zu unterschiedlichsten musikalischen Destinationen, die ich für mich nicht fix verorten möchte. 

Um wieder zurück zu Pink Floyd zu kommen: Sie haben viel vom hier Beschriebenen vorgelebt – freilich um Längen epischer und theatralischer, aber ich wage durchaus den Vergleich: Hervorragende Musiker, enormer Ideenreichtum, großartige Umsetzung bzw. Ausführung und exzellenter Sound da wie dort; auch mach(t)en beide Combos nur geringe Zugeständnisse an den Markt und an 03:30 Minuten Radio-Hörgewohnheiten. Das alles wird umso bemerkenswerter angesichts der Größenordnung der jeweils zur Verfügung stehenden Produktionsbudgets. Letzteres könnte sich noch als unvermutet positiv herausstellen, wenn im Gegensatz zu den soundmäßig aufgedonnerten state-of-the-art-high-tech-Hochglanz-Alben von Pink Floyd der relativ trockene und zeitlose Sound von Dub Spencer & Trance Hill einer wesentlich würdevolleren Alterung unterliegt.

Wenn „Tumultus II“ also nicht wirklich als Reggae oder Dub-Release fassbar ist, was ist es dann? Simpel eine hervorragende musikalische Arbeit, die – zur Beruhigung alles Dubheads – natürlich mit jeder Menge Dub-Effekte und laid-back Rhythmik á la One Drop aufwartet. Zugleich gibt es hier aber noch so viel mehr zu entdecken – andere Künstler würden mit all diesen Ideen vermutlich mehrere Alben auffetten. Nicht so Dub Spencer & Trance Hill, und auch deshalb beide Daumen hoch für diesen beeindruckenden Release. 

Bewertung: 5 von 5.
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The Elovaters: Defy Dub

The Elovaters – wieder eine dieser schablonenhaften West Coast-Reggae-Rock-Pop-Outfits möchte man meinen. Und in der Tat, zumindest musikalisch kommt das so ungefähr hin: Leichtfüßiger Reggae, der noch ein paar Mys mehr in Richtung elaboriertes Songwriting geht und mit etlichen Hooklines aufwarten kann. Das mag sich wie ein musikalisches Todesurteil im Dub-Universum lesen, wo Melodien geradezu vaporisiert werden und mitunter nur mehr in homöopathischen Dosen wie Geister durch den Klangraum schweben; wo die Bassline und nichts als die Bassline die Bühne bildet, auf der wir uns gerne ein multidimensionales Hörerlebnis vorgaukeln lassen. Ich warne allerdings vor vorschnellen Urteilen, die man durchaus fällen könnte, wenn man das Album „Defy Gravity“ und das Video zu Single-Auskoppelung „Meridian“ auf sich wirken lässt:

Penisprothesen, Skate- und Surfboards gibt’s also auch an der East Coast, wie die Bostoner Elovaters in ihren Promo-Videos betonen. Das scheint zu greifen und der Erfolg gibt ihnen recht: Langen und erfolgreichen Tourneen folgt die Einspielung des obgenannten Albums mit Produzent Danny Kalb, der eher für seine Arbeiten mit Beck oder Ben Harper geschätzt wird als für seine vereinzelten Reggae-Produktionen. Für die Band ist die Zusammenarbeit mit dem Produzenten-Kapazunder offenkundig ein Glücksfall; er legt den Fokus auf Melodie und Texte, straffe Arrangements und einen leicht bekömmlichen, hippen Sound. Dass der Sänger einst ein Stipendium für Operngesang hatte, merkt man vordergründig (gott-sei-dank) nicht; aber so eine Ausbildung ist zweifellos hilfreich um sich dermaßen leicht und treffsicher durch Höhen und Tiefen ausgefeilten mehrstimmigen Gesangs zu bewegen. Insgesamt ein rundes Album also, dass von der anvisierten Zielgruppe sehr gut aufgenommen wurde und die Elovaters in neue Popularitätshöhen katapultiert hat.

Und damit könnte diese Rezension schon zu Ende sein, wenn… ja wenn da nicht kürzlich der Dub-Counterpart zum Vocal-Album auf den Markt gekommen wäre: „Defy Dub“ (The Elovaters) erscheint erst satte zwei Jahre nach „Defy Gravity“ und überrascht tatsächlich mit Basslines, die im Dub-Mix ausgegraben und freigelegt wurden. Dazu braucht’s Spezialisten – das sind hier unter anderem Gaudi und Victor Rice, die dem leichtfüßigen Pop-Reggae eine gewisse Erdung verleihen. Den Vogel schießt aber ein gewisser E.N Young ab, der in seine Dub-Mixes aktuelle und angesagte Soundeffekte einbringt – so packt er die Vocals schon mal in die muffige Box um ihre Echos anschließend von den Hochtönern zerschneiden zu lassen. Den Jungen sollte man im Auge behalten – als Dub-Mixer, wohlgemerkt; seine eigenen Versuche als Interpret im Reggae-Genre sind noch… nun ja, entwicklungsfähig.

Insgesamt sechs Dub Mixer gestalten „Defy Dub“ abwechslungsreich und verpassen so dem Vocal-Album ein 2020er-Update – wobei die junge Generation eindeutig den Ton angibt und Haudegen wie Gaudi und Victor Rice etwas hinter sich lässt. Das Gesamtresultat ist frisch, eingängig und beißt sich im Rezensenten-Ohr fest – das mag am außergewöhnlichen Sommer 2020 liegen, an der unerfüllten Sehnsucht nach Sonne, Meer und lauen Abenden am Strand; vielleicht auch am Wunsch nach Leichtigkeit in fordernden Zeiten. Wer hätte gedacht, dass der Soundtrack dazu ausgerechnet ein Dub-Album sein könnte…

Bewertung: 3.5 von 5.

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Gaudi: 100 Years of Theremin – The Dub Chapter

Wer die Melodica für das nervigsten Instrument hält, das je in Reggae und Dub seinen Einzug gehalten hat, sei eines Besseren belehrt: Es geht noch einige Stockwerke tiefer, werte Freunde des gepflegten Dubs.

Womit ich das Theremin vor den Vorhang bitte. Als Musikinstrument ein Kuriosum, treibt es mittlerweile bereits seit 100 Jahren sein Unwesen. Es gilt als einziges Instrument, dass völlig berührungsfrei gespielt wird; die oberen Extremitäten steuern Tonhöhe und Lautstärke einzig und allein durch luftige Bewegungen im Spannungsfeld zweier Elektroden. Die daraus resultierenden Veränderungen im elektrischen Feld werden verstärkt und als Ton wiedergegeben. So steht’s im Wikipedia, dass für Interessierte weitaus mehr einschlägige Infos zum Thema Theremin bereit hält. 

Dieses vermutlich erste elektronische Instrument zeichnete sich vor allem durch seine Wiedergabemöglichkeiten aus – Glissando und Vibrato waren vor Erfindung des Theremins in dieser Form nicht möglich. Heute erledigt das Modulationsrad an den Keys diese Aufgabe mit links (im wahrsten Sinne des Wortes); es besteht also kein Bedarf das Teil ins Studio oder auf die Bühne zu hieven. Oder doch? Nun ja, es ist schon ein cooles Retro-Erlebnis einen Theremin-Spieler in Aktion zu sehen; die Klänge erinnern spontan an die Soundeffekte von Science Fiction-Trash Movies der 1960er und 70er… und unter uns: Wer kennt nicht das berühmteste Musikstück mit gewichtigem Theremin-Bezug?

Das Centennial ist jedenfalls Grund genug für Exil-Italiener Gaudi ein ganzes Album rauszubringen, dass sich diesem Instrument widmet und – no na – den Titel „100 Years of Theremin – The Dub Chapter“ (Dubmission Records) trägt. Die merkwürdige Kombination Reggae/Dub und Theremin gab’s allerdings schon mal – wer erinnert sich noch mit Grauen an’s „Theremin in Dub“-Album, bei dem Gary Himmelfarb aka Dr. Dread feine Dubs aus dem RAS Records-Katalog mit jaulenden Toneffekten unterlegt hat. Warum, wieso… weiß wohl nur der Doctor selbst.

Bei der Gaudi-Produktion verhält es sich anders. Der renommierte Musiker, der sich mit seinem Output entlang der Schnittstelle von Electronica und World Music bewegt, beherrscht das Instrument Theremin hörbar einwandfrei und kreiert damit Melodien, die gut zu den Backing Tracks des Albums passen. Und die stammen nicht von irgendwem, sondern von Dub-Cracks wie Adrian Sherwood, Dennis Bovell, dem Mad Professor, Scientist und Prince Fatty. Keine Neuproduktionen, wohlgemerkt; vielmehr Juwelen aus dem Back-Katalog dieser Produzenten.

Ich muss gestehen, dass mich diese Wiederverwertung alter Tracks anfangs nicht interessiert hat – Gaudi hin, Gaudi her. Als Musikliebhaber und Rezensent bin ich immer auf der Suche nach neuen Klängen und Effekten, nach frischen musikalischen und technischen Möglichkeiten, nach dem nächsten Ohr- und Bauch-Orgasmus. Altes und Wiederaufgekochtes sehe ich als Reminiszenz und Ausdruck seiner Zeit, den man heute leider nicht mehr in seiner ursprünglichen Form erleben kann – aber auch als Benchmark, an dem sich aktuelle Produktionen messen lassen können. 

Und doch macht es große Freude, Style Scott auf klassischen On-U Tracks (wieder) zu hören. Auch der Rest der Backing Tracks des Albums hat durchwegs gute Qualität, das Dub-Mixing ist einwandfrei. Und wie macht sich Gaudi und sein Theremin auf den Aufnahmen? Nun ja… einerseits exzellent, schließlich spielt er das Instrument seit 18 Jahren. Andererseits kommt es ganz darauf an, welche Rolle dem Theremin im Mixing gegeben wurde. Wenn es sich im ausgeglichenem Verhältnis zur restlichen Instrumentierung befindet, verschmilzt es völlig mit dem Dub – siehe Scientist’s „Smokin Dub“. Bei den anderen Tracks wirkt es aufdringlich laut und nervt extrem mit seiner nicht sehr wandlungsfähigen Klangfarbe – Adrian Sherwood’s „Dub out of Theremin“ sei hier als Beispiel genannt. Genau das ist die Crux von „100 Years of Theremin – The Dub Chapter“: Das Instrument sitzt fast immer „on top“ und drängt sich Diva-mäßig in den Vordergrund. Und wie es so mit Diven ist, hat man sie und ihre Manierismen schnell satt.

Wie viele Tracks des Albums kann man also hintereinander hören, ohne entnervt das Handtuch zu werfen? Wenn man sich auf die exzellente Dub-Arbeit konzentriert, schafft man es womöglich auf einmal durch’s ganze Album. Andernfalls liegt die RDA bei allerhöchstens drei Dosen; manch einer wird aber wesentlich empfindlicher reagieren, fürchte ich.

Bewertung: 2 von 5.

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Art-X meets The Roots Addict: Polarity

Gleich vorweggenommen: Art-X, der Musiker, hat so rein gar nichts mit der großen österreichischen Erotik-Supermarktkette gleichen Namens zu tun. Der Mann aus Tours hat sich Augustus Pablo-mäßig der Melodica angenommen und trötet seit einigen Jahren vor sich hin – wenn der Rezensent das mal etwas schnoddrig formulieren darf. Wobei „tröten“ durchaus das falsche Verb sein kann, zumal sich auch die Fachwelt nicht sicher sein dürfte, ob die Melodica ein Blas- oder Tasteninstrument ist. Das technische Prinzip gleicht jedenfalls dem der Harmonika. Der Name „Melodica“ und das Instrument selbst wurden vom alteingesessenen Hause Hohner im deutschen Trossingen ersonnen – oder in anderen Worten: vom Weltmarktführer für Mundharmonikas und Akkordeons. Augustus Pablo, Addis Pablo, Art-X: Sie alle spielen bzw. spielten Hohner Melodicas.

Gut, man könnte jetzt natürlich anmerken, dass so eine Melodica ein sehr einfach zu spielendes, für Kinder hervorragend geeignetes und noch dazu äußerst preisgünstiges Einstiegsinstrument ist. Stimmt, und nach meiner Recherche für diese Rezension bin ich stark versucht mir auch so ein Teil zuzulegen – vom Schlagzeuger zum Melodica-Spieler, warum nicht? Nie wieder Drum-Kit schleppen, einfach nur mehr mit stylischem Köfferchen antanzen und gepflegt ins Mundstück blasen. Musik-Machen kann so einfach sein …

… oder auch nicht: In eine Melodica zu blasen und zum rechten Zeitpunkt die richtige Notentaste zu drücken ist freilich nicht genug. Da wären noch die unterschiedlichsten Spielarten und Techniken um das Beste aus dem Instrument rauszuholen – wie Interessierte im Video von James Howard Young eindrucksvoll nachvollziehen können. Und dann gibt‘s da noch die Möglichkeit sich völlig der Schlichtheit des Instruments hinzugeben, damit die perfekte Stimmung in Moll einzufangen und das Ganze, getragen von einem exzellenten Riddim, in ein zeitloses Dub-Meisterwerk zu verwandeln – Beweisstück: Augustus Pablo‘s „King Tubby Meets the Rockers Uptown“ (aka „Cassava Piece“). Besser geht’s nicht, hands down. Pablo selbst war hörbar nicht der große Virtuose, aber er hatte ein untrügliches Gefühl für das Instrument und dessen Möglichkeiten im Genre – und hat so nahezu alle klassischen JA-Riddims mit der einen oder anderen Version veredelt. Seinem ebenfalls Melodica-spielendem Sohn, Addis Pablo, sind die Schuhe des Vaters noch ein paar Nummern zu groß – sein musikalischer Output wirkt orientierungslos, die Qualität mag sich nicht einpendeln und schwankt kräftig zwischen respektabel und miserabel. Die Zeit wird zeigen, ob er dem Vermächtnis seines Vaters gerecht werden kann.

Und dann wäre dann noch der oben erwähnte Art-X, derzeit sozusagen die personifizierte Frankreich-Dependance innerhalb der recht kleinen Reggae-Melodica-Welt. Als Mitbegründer von Ondubground und dem Weblabel ODGProd. längst kein Unbekannter in der Reggae-Electronica-Szene, zieht er seit 2014 sein eigenes Melodica-Ding durch. Die ersten Releases wirken etwas ungelenk; die Kombination von digitalen Backing-Tracks und Melodica will nicht so recht zünden: Wenn Kälte auf Wärme trifft ist das Ergebnis mitunter nur ein laues Lüftchen. Ganz anders sieht es allerdings aus, wenn sich Art-X auf das Abenteuer Live-Band einlässt – wie hier mit The Roots Addict:

Das passt, sitzt & hält; hat Energie, verströmt Vibes und lässt den Dubhead mit geschlossenen Augen zufrieden mitwippen. Wir alle kennen dieses tiefe Gefühl des Einsseins mit der Musik, dem Bass, mit Echo und Hall. Glücklicherweise macht sich das Gespann Art-X/The Roots Addict auch im Studio gut, wie man auf deren neuesten Release „Polarity“ (ODGprod.) nachhören kann. Klugerweise als 6 Track-EP konzipiert ist die Gefahr eines Melodica-Overkills recht gering. Die originären Riddims im klassischen Arrangement durften im Mixdown ihre natürliche Dynamik behalten, was sich vor allem in einer (mitunter fast zu) präsenten Kick Drum zeigt. Alles in allem ein grundsolider Release, über dem dank der Melodica stets ein Hauch von Melancholie schwebt; der sogar mit dem einen oder anderen überraschenden Audio-Snippet aufwartet, letztlich im Gesamteindruck aber doch etwas Abwechslung in den Band-Arrangements vermissen lässt. Dass das auch anders geht, zeigt Art-X‘ Vorgänger-Album „Nomad“: Hier stammen die Backing-Tracks von verschiedenen Bands, die mit ihren unterschiedlichen Arrangements und musikalischen Energien dafür sorgen, dass Eintönigkeit oder gar Langeweile keine Chance hat.

Wächst da also möglicherweise ein zweiter Augustus Pablo heran? Eher nicht, meint der Rezensent – es fehlt Art-X (noch) an musikalischer Persönlichkeit, an unverkennbarem Stil; an einer gewissen Mystik, die Pablos Spiel und seinen Aufnahmen diese besondere Stimmung verliehen haben. Und natürlich: Die Vibes der 1970er und die Kombi King Tubby/Augustus Pablo haben in JA Aufnahmen entstehen lassen, die sich durch ihre Einzigartigkeit sowieso jedem Vergleich entziehen. Insofern würde ein zweiter Augustus Pablo heute keinen Sinn machen – wohl aber einen originärer, sich eigenständig weiterentwickelnder Art-X.

Bewertung: 3 von 5.

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Rebelution: Dub Collection

Acts wie Rebelution, Stick Figure, Tribal Seeds und wie sie alle auch heißen mögen, scheinen auf dem Reißbrett entworfen zu sein: Die Musik ein Hybrid irgendwo zwischen Reggae, Rock und Ballade, die Texte ohne Referenzen zu jeglichen Dogmen, die Zielgruppen mit College Kids, Beach Bums, Surfer Dudes und Dopeheads eindeutig definiert – Marke weiße Mittelklasse mit Vorliebe für Bier und Canabis; mit nötigem Kleingeld, aber immer noch aufgeschlossen für soziale Themen. Der All American Boy mit seinem All American Girl sozusagen, Wohnsitz vorzugsweise in den Sunny States. Damit kann man Geld machen – weniger mit Releases, umso mehr mit Tourneen, Merchandise, Bier und Weed. Rebelution machen’s vor und haben Ihre Marke ins Brauerei- und Cannabis-Geschäft eingebracht und für deren 2021er-Tour gibt’s natürlich schon die Premium-Tickets samt Merchandise-Bundle zu erstehen – mit Rebelution-Stainless Steel Water Bottle, Rebelution-Gitarren Plektrum und vielen Rebelution-Dingens mehr – um wohlfeile +/- 115 Dollar. Bei Gigs in Kalifornien, Oregon, Colorado usw. wird das Merch-Angebot vorort einschlägig erweitert, keine Frage.

Rebelution & Konsorten haben anscheinend zielgenau geschafft, woran jamaikanische Acts kläglich gescheitert sind: Reggae wieder ins Bewusstsein einer kaufkräftigen Klientel zu bringen. Gut, vom puristischen Standpunkt hat das seinen Preis – dann gibt’s eben keinen One Drop, keinen Jah und kein Rasta-Patois; und wenn man sich mal gedankenloserweise „Soldiers of Jah Army“ benannt hat, tauft man sich kurzerhand ins unverfänglichere „SOJA“ um. Für die jamaikanischen Großväter bleiben immer noch die Tingel-Bühnen – oder man nimmt sie halt als Support-Act mit auf große Tour. Every nickle makes a muckle, Yardie!

Sarkasmus beiseite – ganz so ist es freilich nicht. Die genannten Bands sind keineswegs am Reißbrett entstanden, sondern haben sich einfach aus ihrem natürlichen Umfeld entwickelt: College-Dude raucht Weed, College-Dude hört Marley, College-Dude klimpert auf Gitarre & der Rest ist Band-Geschichte. Seiner ersten Fangemeinde ist er treu geblieben, auch wenn mittlerweile schon die nächste Generation Spring-Breaker in den Startlöchern scharrt. Aus der Nische ist ein mehr als passabler Markt geworden, denn Colleges gibt es in den Staaten landauf, landab. Good vibes, man!

Rebelution ist jedenfalls das Aushängeschild der einschlägigen kalifornischen Reggae-Bands und ein sehr erfolgreicher Tour-Act – nicht so sehr in Europa mangels… nuja, Colleges; aber als Support für Groundation reicht‘s dann doch auf heimischen Bühnen, wo sie tatsächlich ihr Geld wert sind. So ungefähr Roots Reggae, angetrieben von einem dreckigen Rock-Schlagzeug – das macht was her und kommt mit einiger Power aus den Lautsprechern. Erstaunlicherweise gelingt es Rebelution, diesen Drive und den typischen Live-Sound im Studio zu reproduzieren und auf allen ihren Alben beizubehalten. Das wirkt frisch und gleichzeitig schwergewichtig – ein wichtiger Gegenpol zu den oft übersimplifizierten Texten („Lazy Afternoon“) und einfachen Gesangslinien.

Text & Gesang sollten beim aktuellen Release „Dub Collection“ kein Problem sein. Das Album featured eine Auswahl an Tracks aller bisher erschienen Rebelution-Alben – und die haben mitunter schon 13 Jahre auf dem Buckel. Trotzdem passt alles soundtechnisch zusammen und wirkt wie aus einem Guss. Für den digitalen Dub-Mix zeigt sich ein gewisser Kyle Ahern verantwortlich – seines Zeichens Tour-Gitarrist von Rebelution. „Warum er?“ fragt sich der Rezensent nach dem ersten Hördurchgang; warum nicht Dubmatix, Prince Fatty, Roberto Sanchez, Paolo Baldini, warum nicht irgendwer der sein Handwerk versteht und Dub als spannende, aufregende und mit überraschenden Effekten gespickte Reise in unendliche Sound-Weiten versteht? Das Album lässt mich sprachlos zurück – so dröge, leb-, spaß- und spannungslose Dubs habe ich schon lange nicht mehr gehört. Wenn ein Dub-Mixer nicht kann, nicht will oder nicht wagt, dann entstehen solche Dubs. An den ausgewählten Tracks selbst kann‘s nicht liegen – die hätten allemal Potential zu etwas Großartigem gehabt, aber es sollte wohl nicht sein. Dann lieber noch mal das „Falling into Place“-Album in die Streaming-Pipeline hieven… Rebelution at their best, hands down.

Bewertung: 1.5 von 5.

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C Jones meets Ale X: Kalimba is my Telephone in Dub

Man sieht sich immer zweimal. Habe ich eben noch Robbie Ost von den Go East-Studios einen „nicht sonderlich beeindruckenden Mix“ unterstellt, biegt ein neues Album um die Ecke, dass mir die Ohren schlackern lässt – im allerpositivsten Sinn, wohlgemerkt. Ich habe selten einen so schön ausbalancierten Mixdown gehört – und das obwohl hier offensichtlich Soundschicht über Soundschicht gelegt und ein wunderbarer analoger Dub-Effekt dem anderen folgt. Das Ganze ergibt ein dicht verwobenes Netz an Klängen, dass auch nach dem x-ten Mal hören immer noch neues, Ungehörtes offenbart. Und ja, an diesem wirklich beeindruckenden Mix hat Robbie Ost mitgewirkt und er findet sich auf dem Album „C Jones meets Ale X: Kalimba is my Telephone in Dub“ (Echo Beach).

Ich habe vollstes Verständnis für alle, denen weder Artist noch Albumtitel etwas sagen; mir ging’s nicht anders. Deshalb hier ein Schnelldurchlauf: Ale X ist Ali Tersch, Drummer von Dubblestandart und Supermax, der auch mit Steel Pan-Musiker Courtney Jones und Flötistin Lore Grutschnig als Trio „Steel Pan meets Kalimba“ unterwegs war. Während die trinidadische Steel Pan allgemein bekannt sein dürfte, handelt es sich bei der Kalimba um das afrikanische “Daumenklavier“, das heute noch in Simbabwe zeremoniell benutzt wird um mit den Ahnen in Verbindung zu treten. Ali Tersch und Lore Grutschnig haben das Instrument weiterentwickelt und als elektrifizierte Versionen bei Auftritten eingesetzt: 

Fünf Jahre nach dem Tod von Courtney Jones hat Ali Tersch aka Ale X jetzt Studioaufnahmen des Trios finalisiert. Ursprünglich als regulärer Release geplant, entstand beim langwierigen Mischen der Tracks die Idee eines Dub-Albums. Dessen Titel „Kalimba is my Telephone in Dub“, so Ale X, steht metaphorisch für den Kontrast zwischen neuester digitaler und jahrtausendealter musikalischer Kommunikation – letztlich ist er aber auch Ausdruck der Verbundenheit mit dem verstorbenen Courtney Jones.

Electro Dub? World Dub? Ale X wehrt sich gegen die Schubladisierung – und in der Tat fällt eine Zuordnung der Musik schwer. Erinnerungen an die mittlerweile bereits 20 Jahre alte Howie B/Sly & Robbie Produktion „Drum & Bass Strip to the Bone“ werden geweckt – könnte man das neue Album als eine zeitgemäße Weiterentwicklung dieses Konzepts unter Einsatz der heutigen technischen Möglichkeiten begreifen? Ale X sieht den Vergleich als Kompliment; waren und sind Sly & Robbie für ihn nach wie vor federführend. Tatsächlich hat er nicht nur mit den ursprünglichen Studioaufnahmen gearbeitet, sondern auch mit Audio-Snippets und Field Recordings, die u.a. bei Reisen – etwa in Indien – entstanden sind. Die Hauptrollen kommen aber den Elektro-Kalimbas und der Steel Pan zu – beide waren für den Rezensenten mitunter erst nach oftmaligem Hören als solche erkennbar. Das macht auch den Reiz des Albums aus: Steel Pan, Flöte, Kalimbas, Percussions – alles mit an Bord; aber niemals „in your face!“, sondern diffizil im Mix integriert und verwoben, sodass sich immer wieder neue Nuancen offenbaren.

Deshalb dem Album eine naive-liebliche, vielleicht sogar belehrende Ethno-World Music-Mentalität zu unterstellen, wäre ein fataler Fehler: Ale X sorgt mit Loops und Beats für anständigen Groove und nutzt Dub-Techniken nicht nur für einzelne Effekte, sondern als Stilmittel – oder als eigenständiges Instrument, wenn man so will. Das Ganze ergibt zusammen ein wunderbares Klangpaket, das sich anfänglich vielleicht etwas spröde zeigt – nur um sich dann nach und nach zu öffnen und seine vielen Klanggeheimnisse preiszugeben. Letztlich kein Dub-Album im konservativsten Sinn – aber ein gehaltvolles, durch & durch gelungenes Debut eines versierten Musikers.

(…und für die extrem schöne Cover Art leg’ ich doch glatt noch einen halben Stern d’rauf)

Bewertung: 4.5 von 5.

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Paolo Baldini Dubfiles meets Dubblestandart: Dub Me Crazy

Letztlich kann ich Releases nur anhand der zeitlichen Entwicklung der Künstler halbwegs (!) objektiv einschätzen. So festigt sich meine Meinung zu einem Album tatsächlich erst dann, wenn ich auch dessen Vorgänger und dessen Nachfolger gehört habe. Ohne diesen Vorher-nachher-Vergleich erschließt sich mir lediglich ein spontaner Eindruck; nicht mehr als eine Momentaufnahme ohne Bezugspunkt – und ich stehe nicht an zu sagen, dass das mitunter die bescheidene Grundlage für meine Rezensionen im dubblog ist. Bei Debuts funktioniert diese vergleichende Kritik per se nicht; bei allen anderen stelle ich die Frage, was sich im Laufe von drei aufeinander folgenden Album-Releases geändert hat. Gab es einen Richtungswechsel, personelle Veränderungen, verschiedene Produzenten oder Mixing-Engineers? Bewegen sich die Alben in unterschiedlichen Klangwelten, gibt es divergierende Konzepte oder vielleicht gar Qualitätsschwankungen; in welchem Verhältnis steht das jeweilige Werk zur musikalischen Realität seiner Zeit? Kurzum: Ich lote aus, wie und in welchem Ausmaß eine durch verschiedene Umstände bedingte (Weiter-)Entwicklung stattgefunden hat. Schlussendlich beschäftigen wir uns mit einem kreativen Bereich, mit Kunst – und die ist per se nicht statisch.

Bei Paul Zasky und seinem Dubblestandart-Konglomerat konnte man unlängst durchaus eine künstlerische Entwicklung festzustellen, wenn auch leider eine rückläufige – gab es doch zuletzt mit dem Album „Dubblestandart & Firehouse Crew present Reggae Classics“ einen unerwarteten, veritablen Qualitätseinbruch. Wir erinnern uns: Weder Zasky noch die Firehouse Crew waren der Aufgabe gewachsen, Monumente der Reggae-Geschichte neu zu interpretieren. Auch Mixmeister Robbie Ost ist mit seinem nicht sonderlich beeindruckenden Mix mehr oder weniger gescheitert – vermutlich war aus den Aufnahmen, die im krassen Gegensatz zum feinen Vorgänger-Album „Dub Realistic“ stehen, nicht mehr rauszuholen. Ein Paolo Baldini hingegen, der wie Zasky Bassist ist und auf eine ähnlich lange Geschichte im Reggae-Business zurückblicken kann, entzieht sich meines Erachtens einem zeitlichen Vergleich: Seine Produktionen und Dub Mixes, von „Paolo Baldini Dubfiles at Song Embassy Papine Kingston 6“ über Mellow Moods „Large Dub“ bis hin zum „Dolomite Rockers“-Release zeichnen sich durch eine durchwegs gleichbleibend hohe Qualität aus – was sowohl die kreativen als auch soundtechnischen Aspekte betrifft.

Just die beiden hat das Echo Beach-Label jetzt für ein Albumlänge zusammengespannt: „Paolo Baldini Dubfiles meets Dubblestandart“ featured ältere und neuere Dubblestandart-Tracks, die Baldini mit Dub-Mixes überarbeitet hat. Nicht wirklich überraschend funktioniert diese Kombi ausnehmend gut und ich bin versucht, dem italienische Dub-Mixer den „Midas Touch“ anzudichten: Es scheint sich alles, was er in seinem Studio anfasst, zu musikalischem Edelmetall zu verwandeln. 

Wie macht der Kerl das? Ich kann nur vage Vermutungen anstellen; aber vor meinem geistigen Auge verteilt Baldini erst mal eine Handvoll Dreck auf die Tracks und nimmt damit der Musik die Dubblestandart-eigene Perfektion, die mitunter in Sterilität mündet. „Squeaky clean“ ist wohl der passende Anglizismus dafür. Als nächstes dürfte Baldini die Tracks auseinanderklamüsern um das Gute vom weniger Guten zu trennen – nur um dann den einen oder anderen neuen Sound wieder behutsam hinzuzufügen, ohne dass aus dem Musikstück ein nicht wiederzuerkennender Mutant wird. Das Resultat ist ein hörbar gut durchlüftetes Basismaterial, in das er seine Dub-Effekte bestens platzieren kann. 

Dieser Prozess – wie auch immer er in der Realität tatsächlich aussehen mag – wirkt wie eine Verjüngungskur, zumal Paolo Baldini beim Dub-Mixing mit einer gefühlten Portion Respektlosigkeit an die Sache herangeht: Das ist nichts vorsichtig oder mit Bedacht platziert; Echo und Hall drängen sich oft frech in den Vordergrund und erinnern ein wenig – wag‘ ich es zu sagen? – an die Dub-Techniken eines King Tubby, dessen größtes Asset ebenfalls eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber der Musik und der Studiotechnik war. Guter Dub muss auch heute noch vom Dub-Mixer mit Verve umgesetzt und mit Leben erfüllt werden; andernfalls es zu Studio-Totgeburten kommt, die an Langweile, Lustlosigkeit und kalter Sterilität nicht zu überbieten sind. Es würde mich daher nicht wundern, wenn Baldini diese Dubs live erarbeitet hat: ganz old-school, sprich spontan und kreativ am analogen Board. 

Dass Dubblestandart ihre Tracks gern für Remixe aus der Hand geben, ist bekannt und wirkt sich oft wohltuend erfrischend auf ihre Musik aus. Man erinnere sich an die Remix-Schlacht rund um den Marcia Griffiths-Feature „Holding You Close“, der mit sage und schreibe 22 Versionen zu Buche schlägt, darunter der großartige Alpendub-Remix. In den großen Kreis der Dubblestandart-Kollaborateure reiht sich jetzt also auch Paolo Baldini ein und lässt es sich nicht nehmen, „Holding You Close“ einen weiteren Dub-Anstrich zu verpassen. Bei der restlichen Titel-Auswahl für „Paolo Baldini Dubfiles meets Dubblestandart“ beschränkt er sich auf Tracks der letzten vier regulären Dubblestandart-Releases – inklusive zwei der unglückseligen Aufnahmen mit der Firehouse Crew, die auch hier trotz offensichtlicher Bemühungen nur wie Wiedergänger wirken. Der Rest aber lebt auf, atmet sich frei und vibriert durch „Acres of Space“. Ein kleines, rettendes Dub-Wunder, dass die Messlatte für seinen Nachfolger hoch gelegt hat. 

Bewertung: 4 von 5.