Der Streaming-Dienst meiner Wahl kennt mich sehr gut; er weiß um meine wahnwitzige Liebe zum Dub und kann sie von meiner Wertschätzung für Reggae unterscheiden. Er versorgt mich freitags pünktlich um 00:00 Uhr mit den aktuellsten Releases – vermutlich wohlwissend, dass ich gläserner Mensch spätestens um 23:59 Uhr gespannt vor dem Notebook sitze um das Neueste vom Neuen in Sachen Dub präsentiert zu bekommen. Nein, nicht Minimal-Techno-Elektro-Steppers-Dub, der sich vorwiegend durch endlose Wiederholungen ein- und derselben Synth-Bassline bzw. ein- und desselben EDM-Patterns auszeichnet; auch nicht Dub der billigen Art irgendwo im Kämmerchen schnell zusammengeschustert und ganz sicher nicht Dub, der zum Selbstzweck produziert wurde. Es muss schon der klassisch angelegte Dub sein, der mutig die Gegenwart reflektiert; der bestenfalls der Counterpart eines Vokal-Albums ist oder sich als ausgefeiltes, Dub-inspiriertes Instrumental-Album präsentiert.
But then again… nobody is perfect. Mitunter spüle ich – selten aber doch – meine Gehörgänge bewusst mit völlig genrefremden Produktionen diverser aktueller Künstler*innen durch. Zum einen betteln die grauen Zellen von Zeit zu Zeit nach ansprechenden und/oder intelligenten Texten; zum anderen meine ich, dass klassischer Dub keine Insel der Seligen ist: Er kann und muss sich auf neue musikalische Strömungen und technische Entwicklungen einlassen, um im Rahmen seiner Möglichkeiten aktuell, lebendig und ja, auch konkurrenzfähig zu sein. Insofern ist mir ein Vergleich mit anderen Genres wichtig – ich gehe aber davon aus, dass mein Streaming-Dienst diesen Gedankengang (noch) nicht nachvollziehen kann und so das eine oder andere genrefremde Album sinnfrei in die geliebte Dub-Neuerscheinungsliste fehlleitet. Jedenfalls wird so nicht nur meine Lust am Entdecken neuer Dub Produktionen gestillt – ich erweitere gleichzeitig meinen Horizont und kann mich kritisch mit aktueller Musik auseinandersetzen.
Das ist mitunter anstrengend, aber höchst befriedigend und beschert denn einen oder anderen Aha-Moment, was uns zum eigentlichen Thema dieser Rezension bringt: Spotify präsentiert mir ein brandneues Album, dessen knallbuntes Comic-Cover spontan auf den Soundtrack zu einem Sequel vom „Cool Runnings“-Film schließen lässt; der Titel „Jamaica By Bus“ weist trotz der Marley-Referenz eher auf ein Calypso- oder Mento-geschwängertes Touristen-Mitbringsel hin denn auf ein gehaltvolles Album; auch der Künstlername „Addis Records“ scheint seltsam… also Augen zu und durch. Erster Eindruck: woah… eine professionelle Produktion mit erdigem, sattem und dynamischem Sound, Marke Instrumental-Reggae. Zweiter Eindruck und Verdacht: oh no… Dean Fraser. Sein mitunter aggressives, oft x-mal gelayertes Saxophon will mir einfach nicht ins Ohr gehen. Um es deutlich zu sagen: Sein in Schichten eingespieltes Sopran-, Tenor-, Bariton- und Bass-Saxophon ist kein klassischer Bläsersatz wie er im Reggae/Dub zuhause ist und legt eher den Verdacht nahe, dass man sich Posaune und Trompete ersparen will. So mancher Dub-Enthusiast wird das anderes sehen; mir hingegen fällt es schwer, Fraser zu verzeihen, dass er Klassiker wie Black Uhuru’s „Shine Eye Gal“ gemeuchelt hat. Ich wünschte der Mann würde sich vermehrt den Backing-Vocals zuwenden, deren Arrangement er perfekt beherrscht – man erinnere sich nur an die grandiosen Harmonien, die er für diverse XTerminator-Produktionen kreiert hat.
Schon der überaus gelungene zweite Track von „Jamaica By Bus“ (Addis Records) zerstreut aber alle Bedenken: Posaune da, alles gut und noch mehr: Wenige, gut platzierte Dub-Effekte sorgen dafür, dass man am Instrumental-Album nicht wie trocken Brot würgt. Die Vielzahl der an der Produktion beteiligten, einschlägig bekannten Musikern spiegelt sich in der Vielfalt der nach neun der 14 jamaikanischen Parishes (Gemeindebezirken) benannten Titel – alles Handarbeit im allerbesten Sinn, aufgenommen über einen Zeitraum von sechs Jahren in Kingston, London, Paris, Genf und trotzdem: Ein Album wie aus einem Guss; ein Album mit starkem Bezug zu Aufnahmen aus den frühen 1980ern; ein Album, dass sich wie selbstverständlich einmal quer durch One Drop, Rockers, Steppers und retour spielt und so recht kurzweilig geraten ist.
Und wer hat’s produziert? Die Schweizer natürlich – das Duo Jil & Stuf, dass bereits unter dem Namen „Restless Mashaits“ zwei gute, wenn auch nicht optimal abgemischte Instrumental-Alben veröffentlicht hat. Dieses Manko wurde jetzt behoben; die Drum Machine ist endgültig entsorgt und musikalische Exzellenz steht im Mittelpunkt. „Jamaica By Bus ist kein Dub-Album, auch kein reines Instrumental-Album; es ist ein zu 100% live eingespieltes Version-Album“, so Produzent Jil. „Wir wollten damit die spezielle Atmosphäre einzelner Parishes einfangen – eine musikalische Entdeckungsreise sozusagen, in Anlehnung an unsere eigenen Erfahrungen bei der Erkundung der Insel.“ Mittlerweile scheint Jil sie sehr gut zu kennen – seit 1991 bereist er Jamaika. Er kennt die permanent angespannte, mitunter gefährliche Situation in Kingston; er weiß aber auch um die gänzlich anderen Szenerien in Gegenden fernab der Hauptstadt. So abwechslungsreich die Insel, so verschieden die Tracks – verbunden allein durch Instrumentierung, Arrangement und Mix.
Bleibt noch die Frage nach dem Künstler-Namen: „Addis Records ist eigentlich der Name unseres 1992 gegründeten Labels,“ so Jil, „wir wollen damit auf den Streaming-Plattformen leichter zu finden sein.“ Man wünscht Jil & Stuf, dass diese Rechnung aufgeht – denn das kunterbunte Cover, auf dem noch nicht mal den Albumtitel zu finden ist, macht die optische Orientierung schwer. Also Obacht und lasst Euch nicht verwirren: Das ist kein Album mit Kinderliedern, sondern erstklassig produzierter Instrumental-Reggae – zwar bei weitem nicht so ausgefeilt und Solo-lastig wie Clive Hunt’s aktueller „Blue Lizzard“-Release, aber es als bloßes „Version-Album“ zu bezeichnen ist stark untertrieben: Als solches wäre es wohl das Beste, dass mir je untergekommen ist.