In letzter Zeit erscheinen immer wieder Releases, die sich in erster Linie durch Sänger*innen auszeichnen, deren Stimme man durchaus das Prädikat „charakterlos“ verleihen kann. Das mag äußerst despektierlich klingen, ist aber keineswegs so gemeint. Singen per se ist nicht jedermanns Sache; nicht jede Stimme ist universal einsetzbar und nur wenige haben diesen eindeutigen Wiedererkennungswert, den ich als „stimmlichen Charakter“ bezeichnen möchte. Es ist diese einzigartige Intonation, Diktion und Manier, die – wenn man das so ausdrücken möchte – einer Stimme ihren Charakter verleihen. Das Reggae-Genre war und ist reich an diesen stimmlichen Unikaten: Michael Rose, Winston Rodney, Marcia Griffiths, Peter Tosh, Gregory Isaacs, Eek-A-Mouse, Dennis Brown, U-Roy, Earl 16, Apple Gabriel, Don Carlos, Vaughn Benjamin, Leroy Sibbles, die Marleys, usw. usf. – jede und jeder Einzelne unverwechselbar und bereits beim ersten Ton augenblicklich erkennbar. Dabei ist es völlig unwichtig ob der Ton sitzt oder ziemlich daneben geht; im Reggae sieht man das nicht so eng und macht mitunter den leicht schiefen Ton – den zwischen den Noten sozusagen – zum Stilmittel: Winston Rodney aka Burning Spear weiß davon das eine oder andere Lied zu singen; für Anthony B. ist Intonation sowieso ein lebenslanger „Universal Struggle„.
Es kommt nicht von ungefähr, dass sich im obigen Name-Dropping überwiegend die ganz Großen aus den 1970ern und 80ern wiederfinden – einer Zeit, als Major Labels dem Reggae noch großen Wert zugestanden haben – überwiegend dank Bob Marley, aber ebenso dem Hype, der nach seinem Tod entstand: Wer würde wohl den nächsten Reggae-Superstar unter Vertrag nehmen? Natürlich hat man auch schon zu Marley’s Zeiten mehr oder weniger erfolgreich andere Künstler des Genres aufgebaut; und wie das zu diesen Zeiten so war, haben die Majors eine rigorose Auswahl getroffen: nur die Besten der Besten im Sinne von Vermarktbarkeit, Wiedererkennungswert und… ja, auch Können. Ich unterstelle, dass Kriterien wie Naivität, Gefügigkeit und Manipulierbarkeit eine gewisse Rolle gespielt haben; das Investment musste sich bezahlt machen. Wenn dem nicht so war, fand man sich schnell bei kleinen und Kleinst-Labels wieder, die das Genre nach dem umsatzbedingten Desinteresse der Major Labels dankenswerterweise ins neue Jahrtausend getragen haben.
Die Musiklandschaft heute hat sich aufgrund der dahinsiechenden Musikindustrie und neuer technischer Möglichkeiten völlig verändert; die großen Umsatzfaktoren sind Live-Performance und Merchandise. Jeder – und das ist der springende Punkt – jeder, ob Musiker oder nicht, kann sich mit relativ geringem Kapitalaufwand in Eigenproduktion, -vertrieb, -vermarktung versuchen. Eine Vorauswahl der „Best of the Best“ findet nicht mehr statt und die Pyramide mit den Stufen des Erfolgs ist sehr, sehr flach geworden – im Genre Reggae, wohlgemerkt. Es bleibt der subjektiven Wertung überlassen, ob man das positiv oder negativ sehen möchte.
Kein Wunder also, dass wir uns heute mit einer erklecklichen Anzahl an Releases konfrontiert sehen, die ich als bestenfalls mittelmäßig werten möchte. Grund dafür könnte fehlende Expertise sein: Nicht jeder, der Pro Tools auf seinem Notebook installiert hat, kann produzieren. Nicht jeder, der ein Instrument besitzt, beherrscht es oder kann es dem Arrangement dienlich einsetzen. Nicht jeder, der eine Stimme hat, sollte singen – womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären und am Ende dieses kleinen Exkurses. Und dass alles wegen Nick Sefakis!
Entgegen dem vermuteten Fragezeichen im Gesicht des einen oder anderen Lesers ist Sefakis kein ganz Unbekannter: Der Mann ist Gitarrist beim kalifornischen Reggae-Rock-Pop-Konglomerat Iya Terra und verrichtet dort, wie man auf YouTube nachvollziehen kann, gute Arbeit:
Schuster, bleib‘ bei Deinem Leisten: Als begnadeter Saitenzupfer muss man nicht auch noch singen, schon gar nicht wenn’s die Stimme im Lead mangels des oben frech „Charakter“ Genannten nicht bringt. Dabei kann Nick Sefakis seine Stimmbänder durchaus sinnvoll einsetzen: Es finden sich traumhaft gelayerte, wunderbar harmonische old-school Background-Vocals auf seinem Solo-Debut „Foundation“ – und die lässt er zur großen Freude des Rezensenten auf den Dub-Counterpart „Foundation in Dub“ (Eigenverlag) so richtig zur Geltung kommen. Seidenweich setzen sie die Hook-Lines in Szene und wecken Erinnerungen an die großen Vocal-Trios á la Israel Vibration, The Viceroys / Paragons / Tamlins / Meditations / Heptones und wie sie alle heißen. Das und die Absenz bzw. die Reverb-Verarztung der Lead Vocals über weite Strecken zeichnen das Dub-Album aus, das man produktionstechnisch als gelungen bezeichnen kann: Klassische Arrangements und schöner, ausgewogener, wenn auch einen Ticken zu polierter Klang trifft auf zurückhaltenden, nichtsdestotrotz feinen Dub-Mix. Gut, ich hätte mir auf allen Tracks live-Drums gewünscht, aber man kann nun mal nicht alles haben und ich sehe die feinen, live eingespielten Bläsersätze als eine Art Wiedergutmachung. Ich will auch nicht kleinlich sein und winke selbst den AutoTune-Einsatz durch: Wenn’s passt, dann passt’s. Bei den vereinzelt eingesetzten HipHop-Beats hört’s dann wieder auf, die müssen nicht sein.
Kann man also „Foundation in Dub“ als gutes Dub-Album empfehlen? Durchaus, vor allem im Vergleich zum eher langweiligen Vocal-Album. Auch wenn Nick Sefakis das vermutlich nicht beabsichtigt hat: Die Dubs sind wie geschaffen für den Soundtrack zum Sundowner… am 7-Mile-Beach in Negril, im Alfred‘s Ocean Palace. „Life is surely what you make it so I made a dream of it“ – recht hat er, der Herr Sefakis.