Mystic Fyah ist ein Soundsystem aus Lissabon, bestehend aus drei Typen (Baresi, Dubio, Tito) und einigen beeindruckenden Lautsprechertürmen. Das Sound System existiert seit 2007, ins Production-Business scheint das Trio aber erst 2015 eingestiegen zu sein. Seitdem hat es einen kontrollierten, wohl dosierten Output – wie es sich für ein Sound System geziemt – im Steppers-Style. Doch dann kam letztes Jahr die „Dynamite EP“ mit sieben Titeln heraus, die plötzlich deeper und dunkler klang und unverhohlen mit Minimal-Techno-Anleihen spielten. Nun liegt das Reworking der EP mit dem einfallslosen Titel „Dynamite EP Remixes“ vor – und geht noch einen Schritt weiter. Frenk Dublin, Smalltondubz, Skruff, Dub Troubles und Stillhead legten Hand an vier der Titel und trieben sie noch weiter in Richtung Dunkelheit. Ich fühlte mich beim Hören unweigerlich an Rhythm and Sound erinnert – jene beiden Dub-Techno-Pioniere von Basic Channel, deren Musik ich vor 20 Jahren in höchstem Maße feierte. Doch im Vergleich zu deren rigorosem Minimalismus ist die Musik von Mystic Fyah geradezu ein Füllhorn an Ideen, Sound und Melodien. Wer den reichen uptempo Dub-Sound historischer, handgespielter Analogaufnahmen mag, wird Mystic Fyah wahrscheinlich trotzdem stupide Repetition unterstellen. Ich aber liebe diese magisch-minimalen, hypnotischen Mystic Fyah-Klang, der wie ein Meditationsmantra auf Trommelfelle und Gehirn wirkt und in dem jede Note, jedes Echo und vor allem auch jede Pause zwischen den langsamen Beats zählt. Das Hörerlebnis gleicht einem Abtauchen in eine Slow-Motion-Unterwasserwelt, schwerelos und (Tiefen-)berauschend.
Autor: René Wynands
City Squad: Marseille + Aix
Die Franzosen haben es gut. Neben leckerem Essen, gutem Wein, Paris, dem Elsass und einer richtig schönen Portion Alpen, verfügen sie auch über eine lebendige und äußerst produktive Sound System-Szene. Selbst in Käffern wie Grenoble residieren 14 Sound Systems! Das Subsquad Prod-Label hat sich zur Aufgabe gemacht, die wichtigsten Dub-Hotspots des schönen Landes sukzessive vorzustellen. Neben Bordeaux und Grenoble fällt das Schlaglicht diesmal auf Marseille und deren kleine Nachbarstadt Aix-en-Provence – beide gelegen in den sonnigen Gefilden der Provence. Allein in Marseille gibt es 13 Sound Systems. In Aix und Umgebung weitere. 14 Tracks hat das Subsquad-Team für „City Squad: Marseille + Aix“ zusammen getragen. Erneut eine beeindruckende Sammlung. Steppers gibt hier ganz klar den Ton an. Doch es ist weniger die – durchaus differierende – musikalische Qualität, die diese Reihe so interessant macht, als viel mehr das geniale und doch so einfache Konzept, die Sound System-Szene Frankreichs in Form einer – zudem kostenlosen – Sampler-Reihe vorzustellen. Auf einer Tour de Dub, gewissermaßen. Ich wünschte mir so etwas auch für Deutschland – in der Hoffnung, dass wir nicht viel schlechter abschneiden würden als unsere lieben Nachbarn (was ich aber tatsächlich bezweifle).
Ähnlich wie in Grenoble scheint auch im Süden der Republik die Dub-Culture direkt von einer lebendige Festivallandschaft abzuhängen. Initialfunke war die „Musical Riot Association“, die sich 2002 gründete und unter eigenem Namen Dub-Festivals veranstaltete. Ab 2010 folgte dann einige Kilometer außerhalb Marseilles das bekannte Dub Station Festival – Inkubator vieler lokaler Sound Systems. Da die Subsquad-Crew ihre Sache ernst nimmt, könnt ihr eine Zusammenfassung ihrer akribischen Recherche der Subsquad-Website nachlesen.
Dubblog Charts 2021
Es ist wieder so weit: Zum Weihnachtsfest servieren wir euch unsere Dub-Top 5 des vergangenen Jahres. Wie ihr seht, zählt bei uns Diversity. Wie sollte es bei einem so facettenreichem Genre auch anders sein? Wir sind auf eure Auswahl gespannt. Schreibt sie uns in die Kommentare. Frohes Fest!
Top 5 von René
Ein Konzeptalbum mit Cross-Over-Potential. Don Letts präsentiert Dubs von Nicht-Reggae-Songs. Viele exklusiv von den Größen des Genres neu gemixt.
Ich stehe Experimente. Dub trifft auf deutsche Lyrik! Schräg und maximal gelungen.
Magisch, überwältigend, tieftraurig, düster, schwer und kraftvoll.
Sound-Almagan aus exotischen Zutaten von intensiver, dichter – manchmal durchaus melancholischer – Atmosphäre.
Eines der wenigen Dub-Alben aus Jamaika. Dafür aber umso besser: Crisp, druckvoll, dynamisch und voller Ideen.
Top 5 von Ras Vorbei
Der Schlussakkord eines Musikgenies. R.I.P. Rainford Hugh Perry aka Lee Scratch Perry, wir werden dich vermissen!
Der „Rebel Dread“ schenkt mir einen Querschnitt meiner musikalischen Sozialisation in Dub.
Ein riesiger Monolith; das bis heute unerreichte Unikat.
»The whole World is Africa«, mein Dubious-Music-Album für 2021.
Originärer, unverbrauchter, grenzenloser Dub aus dem ON .U Sound Archiv.
Top 5 von Helmut
Eine Hommage ans Vinyl, stilistisch zwischen UK-Steppaz und traditionellem Jamaika-Dub. Überrascht mit einem neuen Dub eines alten Wailers Riddim.
Virtuoser, gnadenloser Dub-Showdown. Erst auf dem letzten Meter vom Tuff Scout Gorilla auf Platz 2 verdrängt.
1979 produziert Dennis Bovell das Debüt der UK Pop Group. 40 Jahre später mischt er die Dub-Version. Radikal! Effektiv! Und garantiert Reggae-frei!
Online Projekt eines in Frankreich lebenden, indonesischen Drummers und eines in Vancouver sitzenden Dub-Wizzards. Passionierte Instrumental-Musik mit Dubs. Untertitel: Rubadub – One Drop – Rockers.
Aus traurigem Anlass: Die Neuauflage mit „African Children“, „Natural Progression“ und der Killer Bassline von „Dub Fire“. Gemischt vom Anfang Dezember verstorbenem Michael „Reuben“ Campbell.
Top 5 von gtk
Pure Freude: Hitverdächtig-eingängige Gesangssprenkel treffen geniale Basslines, die Soundsystem-mäßig aus den Speakern wummern.
Das Album, dass den Preis für den differenziertesten und dynamischsten Sound verdient hat. Chapeau, Tontechniker Casey Burnett!
Hinterhältige Dubs, brüllend-laut mit einem Mü Dreck abgemischt. Eingebettet in ein mörderisches Konzept ergibt das ein … nun ja, ein Killer-Album!
Frisch aus Frankreich und schon in den Top 5: Eine wunderbar relaxte, charmant-ungelenke Reise durch das Sonnensystem – oder: Die Rehabilitation des Saxophons.
Das hätte ein üppiges Album werden können, kommt aber als Single-Breitseite daher: Grundsolide Roots-Tracks in der von Aldubb gewohnt-verlässlich-konservativen Dub-Qualität.
Nachruf: Robbie Shakespeare
Am 8. Dezember starb Robbie Shakespeare bei einer Nierenoperation. Er wurde nur 68 Jahre alt.
Ich habe Robbie nicht persönlich gekannt und doch hat mich sein Bassspiel die größte Zeit meines Lebens begleitet. Als ich um 1980 Reggae für mich entdeckte, war die Musik von Sly & Robbie allgegenwärtig. Es war der Höhepunkt ihrer Karriere. Zudem gab es ein gewaltiges Oeuvre der Rhythm-Twins aus den 1970er Jahren für mich zu entdecken.
Irgendwann um diese Zeit hörte ich im Radio ein Dub von Sly & Robbie. Es war das erste Mal, dass ich instrumentalen Reggae wahr nahm. Ich war absolut begeistert und fing an alle Dub-Alben des Duos zu kaufen, derer ich im örtlichen Plattenladen habhaft werden konnte. Dann erschien 1981 „Nightclubbing“ von Grace Jones – mit von Sly & Robbie eingespielten Rhythms. Es war eine Sensation. Im gleichen Jahr kaufte ich „The 60’s, 70’s Into The 80’s = Taxi“ und „Sly and Robbie Present Taxi“. Die beiden Vinyl-Alben spielte ich so oft, dass schließlich nur noch eine blank gehobelte Rille übrig blieb. Ein Jahr später folgte das Live-Album „Black Uhuru: Tear It Up“. Was war das für eine großartige Zeit! Ich hatte „meine“ Musik entdeckt und wurde mit Meisterwerken überschüttet. Es folgten seither unzählige andere Sly & Robbie-Alben, die ich meiner Plattensammlung sukzessive einverleibte. Irgendwann begann ich, Reggae-Alben für diverse Musikmagazine zu rezensieren, leider zu einem Zeitpunkt, an dem sich die goldene Ära der Rhythm-Twins schon etwas ihrem Ende zuneigte. Speziell in den letzten Jahren musste ich dann leider auch viele Verrisse in die Tastatur hacken. Was mir in der Seele schmerzte, denn Sly und sein Partner Robbie schufen den Soundtrack meiner Reggae-Sozialisation und speziell Robbies Bass war einer der wesentlichen Gründe, weshalb ich eine so große Liebe zu Dub entwickelte. Nun tritt mit Robbie Shakespeare eine meiner wichtigsten Identifikationsfiguren des Reggae ab. Die Rhythm-Twins sind unwiederbringlich Geschichte. Es stimmt mich traurig. Ruhe in Frieden, Robbie.
Foto: Schorle, CC BY-SA 4.0
Marcel-Philipp Meets Scientist
Marcel-Philipp ist auf den Dub-Geschmack gekommen, entstammen doch seine drei letzten Alben allesamt diesem Genre. Doch nach „Dub You Crazy“ und „Can’t Get Enough of Dub“ liegt nun ein ganz spezielles Album vor: „Marcel-Philipp Meets Scientist“ (Ashera). Was für eine spannende Zusammenarbeit: Der Multiinstrumentalist und Schöpfer luftig-leichter Reggae-Kompositionen trifft auf den Dub-Großmeister und Kreateur bleischwerer Mixes.
Wie kam es zu dieser bemerkenswerten Zusammenarbeit?
Marcel-Philipp: „Ende 2019 kam der erste Kontakt zustande als ich an der Planung einer Scientist Audio Engineering Master Class in Deutschland beteiligt war. Mitte 2021 habe ich ihm dann das Rohmaterial für einen Track von mir geschickt. Zu Beginn war das Projekt eigentlich auch nur auf einen Track begrenzt doch wir waren beide vom Ergebnis begeistert. Deshalb haben wir beschlossen, ein komplettes Album umzusetzen.“
Wie lange habt ihr an dem Album gearbeitet?
Marcel-Philipp: „Mit seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten hatte er das ganze Album innerhalb weniger Tage fertig. Die russische Künstlerin Lera (lastcaress), die ich mit dem Cover-Design beauftragt hatte, konnte aus Termingründen erst Ende September liefern, weshalb ich den Release-Termin in den November 2021 legte.“
Was schätzt du an der Arbeit von Scientist?
Marcel-Philipp: „Viele der von Scientist gemischten Alben gehören soundmäßig zu meinen absoluten Lieblingen. Während der Zusammenarbeit war der Kontakt zwischen uns sehr intensiv und ich konnte Einblicke in seine Vorgehensweisen und sein Wissen im Bereich Audio Engineering bekommen.“
Was ist das Geheimnis von Scientist?
Marcel-Philipp: „Noch vor der Erstellung des Dub Tracks haucht Scientist dem Gesamtsound seine spezielle Magie ein. Alle Alben, die von Scientist gemischt wurden, haben diesen einzigartigen Sound. Bei ihm beginnt alles mit dem Schlagzeug-Sound. Seiner Aussage nach, kann er jeden seiner tausenden gemischten Tracks nur am Sound der Kick-Drum ausmachen. Auf die Frage nach dem Vorgehen beim Mixing der Bass Gitarre antwortete er „The bass guitar drives the kick“. Seine Obsession für den Sound ist unfassbar. Die Kombination aus technischer und wissenschaftlicher Herangehensweise gepaart mit seinen künstlerischen Fähigkeiten und dem Interesse am Ausprobieren macht ihn zu dem was sein Künstlername aussagt: einen Wissenschaftler.“
Du bist ganz offenbar ein Fan von Scientist. Wo kommt deine Bewunderung für ihn her?
Marcel-Philipp: „Bei mir beginnt der ganze Schaffensprozess mit den Instrumentalversionen. Aus Mittel zum Zweck habe ich mich deswegen früh intensiv mit Mixing und Mastering auseinandergesetzt. Schon vor Jahrzehnten habe ich den Klang, speziell der Kick und der Snare, von Scientist Tracks analysiert. Nicht um diesen Sound zu kopieren, sondern um zu verstehen, wie und was er da macht. Als sich die Möglichkeit einer Zusammenarbeit bot, war ich sehr dankbar und enorm gespannt was Scientist mit meinen Instrumentals anstellen würde.“
Und, was hat er mit ihnen gemacht? Wie unterscheiden sich seine Dubs von deinen?
Marcel-Philipp: „Scientist machte große Anpassungen am Sound von Kick und Snare. Die Melodika als Lead-Instrument bekommt bei ihm viel Platz und ist im Vergleich zu meinen Dubs viel mehr präsent. Aus technischer Sicht spielt Scientist beim Einsatz vom Delay viel mit dem Feeback und auch die Verwendung des High-Pass Filters ist bei ihm omnipräsent.“
Bleibt das Joint Venture mit Scientist eine Ausnahme, oder planst du auch mit anderen Dub-Meistern zusammenarbeiten?
Marcel-Philipp: „Ich selbst strebe nicht an, bestimmte Sounds zu reproduzieren und lasse mich bei meinen eigenen Mixes von meinem Gefühl leiten. Aus Komponisten-Sicht sind Kooperationen daher sehr interessant und ich würde mich freuen, wenn ich in Zukunft auch mit anderen Dub-Meistern zusammenarbeiten könnte. Ich höre in meiner Freizeit viel Dub-Musik und bin immer wieder bei den Neuerscheinungen sehr positiv überrascht.“
Klingt so, als wärest du jetzt von deinen Instrumentals voll auf Dub umgestiegen?
Marcel-Philipp: „Mein Hauptfokus liegt immer noch auf den Instrumentals, denn ohne diese kann ich keinen Dub produzieren. Die drei Dub Alben sind ein Ergebnis der vielen Instrumentals die ich in den letzten Jahren fertiggestellt habe. Ich freue mich nun aber wieder darauf viele neue Tracks einzuspielen. Also werden von mir als nächstes wieder ein oder mehrere Instrumental-Alben erscheinen, bevor ich dann auch diese in Dubs verwandele.“
Man muss konstatieren: Corona hat auch sein Gutes! Diese beiden (!) Alben, nämlich: High Tone Meets Zenzile – Zentone, Chapter 2 (Jarring Effects). Was für ein fulminantes Dub-Werk! Hervorgegangen aus der deprimierendsten aller Pandemien, fünfzehn Jahre nach dem „Chapter 1“. Offenbar haben die neun Musiker der zwei profiliertesten Dub-Bands Frankreichs es in der Einsamkeit ihrer Homeoffices nicht länger ausgehalten und sich ganz konspirativ für eine Woche in Lyon im Studio eingeschlossen, um – ja unglaublich – von Angesicht zu Angesicht miteinander zu musizieren. Ohne viel Studio-Rocket Science (ganz im Gegensatz zu „Chapter 1“). Statt dessen mit einem einfachen Sound System-Setting, spontan, direkt und improvisiert. Alles, was zählte war der zwischenmenschliche Vibe. Das Ergebnis ist atemberaubend. Zwei Alben voller fantastischer, inspirierter Kompositionen mit insgesamt 22 Tracks, die vor Wärme, Intensität und echter Schönheit nur so strotzen. Katalysator dieser Qualität war offenbar die pure Lust an der persönlichen Begegnung – vielleicht gepaart mit ein paar während der Lockdowns angestauten musikalischen Ideen aller Beteiligten. Substanz statt Effekt lautete das Motto. Alle Tracks wurden live produziert und anschließend auf analogen Konsolen gemixt. Der Sound ist warm, komplex und voller Dynamik. Hier stimmt einfach alles. Und natürlich passt zu solch einem Ansatz die Einbeziehung von Sängern. Ja, tatsächlich! Ich bin eigentlich Dub-Purist, aber hier liefern Nai-Jah, Nazamba, Jolly Joseph und Rod Taylor einen absolut essenziellen Beitrag zur musikalischen Vielfalt, ohne dabei den Dub-Vibe auch nur im Geringsten zu schmälern. Ihre Performances – vor allem Nai-Jahs und Nazambas – sind einfach grandios.
Okay, jetzt muss aber noch die Geschichte mit den zwei Alben aufklärt werden: Zenzile und High Tone haben während ihrer Woche in Lyon insgesamt zehn Rhythms aufgenommen. Zenzile hat sich anschließend alle zehn Stück vorgeköpft, gemixt und zu einem Album zusammen gestellt, das als CD oder Download gekauft werden kann. High Tone hat sich hingegen nur die vier Rhythms vorgenommen, für die ein Sänger aufgenommen wurde und präsentiert sie im Showcase-Style: Vocal-Version, Instrumental-Version, Dub-Version – und kommt so auf zwölf Tracks, die als Doppel-Vinyl angeboten werden (sie könne aber auch als Download erworben werden). Um die Sache jetzt aber schön kompliziert zu machen, gibt es noch eine Streaming-Variante. Diese besteht aus den zehn Zenzile-Mixes sowie den vier Vocal-Versions von High Tone. Alles klar?
Echte Dub-Nerds werden die Mixes natürlich miteinander vergleichen und feststellen, das High Tone traditioneller ans Werk geht und mit seinen Mixes auf den Sound System-Einsatz zielt, während Zenzile zu etwas verspielteren, Sofa-kompatiblen Ansätzen neigt. Ich kann mich aber gar nicht entscheiden, was mir besser gefällt – deshalb höre ich stets beide Alben hintereinander.
Kanka: My Bubble
Bass is the Base of Dub! Eine ebenso simple, wie evidente Tatsache. Klar: Bass ist natürlich nicht alles (aber alles ist im Dub ohne Bass nichts!). Aber Bass macht – zumindest bei mir – mindestens fünfzig Prozent dessen aus, was ich an Dub liebe. Alles andere muss sich die verbleibenden Prozent teilen. Und deshalb bin ich ein Fan von Kanka, jenes bescheidenen französischen Dub-Nerds, der seine Musik regelmäßig kostenlos zum Download anbietet. Kanka ist DER Mann des Basses. Abgesehen von Alpha & Omega kenne ich keinen Dub-Artist, der so tonnenschwere Basslines produziert, wie er. In seiner Musik ist Bass die alles durchdringende dunkle Materie. Alles existiert IM Bass, nicht daneben, darüber oder darunter. Der Bass ist allumfassend. Nun ist mit „My Bubble“ sein neues Album erschienen. Ich rate dazu, es auf einem guten HiFi-System – am besten mit voluminösem Subwoofer – anzuhören, die Massage der Eingeweide zu genießen und auch dann nicht abzuschalten, wenn der zu Notreparaturen herbei gerufene Statiker bereits in der Tür steht. Noch besser ist es natürlich, Kanka in einem Live-Soundsystem zu erleben. Der kleine Mann steht in stoischer Ruhe hinter seinem Mischpult, nie hebt sich sein Blick ins Publikum, nie spricht er auch nur ein Wort. Aber die Musik, die er durch die Lautsprechertürme schickt, bringt die Erde zum beben. Der Titel des Albums, „My Bubble“ macht schon klar, dass nur wir Hardcore-Dub-Nerds, Kankas Zielgruppe sind. Wir, die wir mit ihm in einer Dub-Filterblase stecken und diese Art von Musik zu genießen wissen. Ich gebe zu, dass seine Musik keine Raffinesse besitzt, dass sie keine frischen Ideen enthält und an Minderkomplexität grenzt. Geschenkt. Aber ich schätze das, was aus dem Verzicht all dieser Zutaten erwächst: Eine absolute Konzentration auf das Wesentlich: Bass & Rhythmus. Die Wirkung ist hypnotisierend. Ein Trance-Ritt durch die Abgründe der dunklen Materie. Das Album gibts bei odgprod.com zum kostenlosen Download.
Roots Organisation: Stricktly Recreational
Ich habe es ja schon so oft gesagt: „Instrumentaler Reggae ist ein gigantischer, supranationaler, omnipräsenter Über-Hype!“ Ehrlich! Hier haben wir wieder ein perfektes Beispiel dafür: „Stricktly Recreational“ von der Roots Organisation. Und wieder kommt dieses Bläser-getriebene, fulminante Werk aus den Alpen – wie zuletzt die „Winds of Matterhorn“. Doch anders als die Winde, verortet sich die Wurzel-Organisation mehr im Klangspektrum des Jazz – was immer auch einwenig nach Ska klingt, obwohl die EP frei ist von entsprechenden Rhythmen. Als Produzent zeichnet aDUBta verantwortlich. Er nahm die neunköpfige Band im Grazer Stressstudio live auf – was hilft, den Sound zu erklären. Da ich Blechbläser im Reggae und insbesondere auch im Dub sehr mag und auch viel mit deren Soli anfangen kann, gefällt mir die EP ausnehmend gut. Der Sound ist luftig, die Arrangements äußerst abwechslungsreich und das Tempo beschwingt. Der Mix vermittelt sogar gelegentlich dezent ein wenig Dub-Appeal. Nice.
Ksanti & Owl Trackers: Time Lapse
Die meisten Dub-Alben gehorchen einer durchgehende Stilistik – vom ersten bis zum letzten Track. Ist das Logic-Pro-Setting ein mal gefunden, kann es von Track zu Track kopiert werden. Das Kollaborationsprojekt der beiden Produzenten Ksanti & Owl Trackers: „Time Lapse“ bricht mit diesem Muster und gleicht vielmehr einer Reise durch verschiedene Stile, musikalische Einflüsse, Stimmungen und Tempi. Das Spektrum reicht von sanftem Steppers, über indische Einflüsse bis zu Lo-Fi- und Electro-Dub. Und das in nur vier Tracks (und einem Zwischenspiel)!
Bei Ksanti & Owl Trackers handelt es sich um zwei französisch Produzenten. Ksanti ist ein Dubmaker aus Bordeaux, mit Vorliebe für progressiven Steppers und musikalischen Experimenten in Richtung Electro, Chill und manchmal Lo-Fi Sounds. Owl Trackers ist hingegen ein Dubmaker aus der Pariser Region, der Dub mit Electro-, Trip-Hop- oder Techno-Einflüssen verbindet und zu faszinierenden Sound-Landschaften verwebt.
„Time Lapse“ führt uns im Zeitlupentempo durch diese Landschaften. Die Dubs strahlen eine ungemein kontemplative Ruhe aus während zugleich ein Gefühl der Erhabenheit entsteht, mit dem wir auf die Schönheit der imaginären musikalischen Landschaft blicken. Klingt etwas schwülstig, macht aber – wenn man sich darauf einlässt – den großen Reiz dieser vier Tracks aus. Hört mal rein. Der Download ist kostenlos.
Wir Dubheads leben in unserer kleinen, hermetischen Dub-Blase und feiern unser very, very special interest Sub-Genre als den Nabel der Welt. Einen Nabel, dessen Existenz 99,999999 Prozent der Menschheit allerdings noch nicht einmal erahnen. Im Vergleich zu Rock, Pop und Hip Hop lebt die Musik, um die wir Zeitlebens kreisen, absolut in Verborgenen. Geradezu zynisch ist diese Unbekanntheit angesichts der Tatsache, dass die Abkömmlinge von Dub, wie z. B. Discomixes, Remixes oder Bass Music, längst Teil des Mainstreams geworden sind. Aber was soll’s? Solange es noch Musiker und Produzenten gibt, die unsere Blase mit Nachschub versorgen, kann es uns ja egal sein, ob die Welt da draußen Notiz von uns nimmt. Und doch … Irgendwie regt sich der Missionar in mir: „Hey Leute, hört euch das hier mal an. Es wird euer Leben verändern!“. Na, ja, man wird träumen dürfen. Aber in der Tat eröffnet sich gerade eine fantastische Chance, zwar nicht dem Mainstream, aber doch musikinteressierten Menschen außerhalb unserer Blase einen Blick auf die Schönheit von Dub zu gewähren: „Late Night Tales Presents Version Excursion Selected by Don Letts“. Late Night Tales ist eine Compilation-Reihe, die seit 2001 Artists und DJs einlädt, tief in ihre persönliche Sammlung einzutauchen und den „ultimate late night mix“ zu kuratieren. Vor 20 Jahren war das ein komplette neues und äußerst beliebtes Konzept. Wir erinnern uns z. B. an die äußerst populäre KJ Kicks-Reihe, oder an die legendären Fabric-Compilations. Was diese CD-Serien damals so interessant machte: Mit aufwändigem Marketing richteten sie sich an ein aufgeschlossenes Musikpublikum und ermöglichten den versammelten Genre-Produktionen eine unvergleichliche Reichweite. Im Spotify-Zeitalter ist das vielleicht nicht mehr ganz so bedeutsam – funktioniert aber immer noch. Deshalb ist es schon etwas ganz Besonderes, wenn eine Serie wie „Late Night Tales“ (laut GQ der „Rolls Royce unter den Serien“) den DJ, Radio-DJ und Filmemacher Don Letts einlädt, ein Dub-Album zu kuratieren.
Wer, wenn nicht Don Letts, wäre der perfekte Mann, um dieses missionarische Crossover anzuführen, steht er doch seit je her für die Mischung diverser Musikkulturen und Dub. “A disciple of sound system, raised on reggae n’ bass culture my go to sound was dub. Besides being spacious and sonically adventurous at the same time, its most appealing aspect was the space it left to put yourself ‘in the mix’ underpinned by Jamaica’s gift to the world – bass. But that’s only half the story as the duality of my existence meant I was also checking what the Caucasian crew were up to not to mention the explosion of black music coming in from the States.“ Erläutert Don Letts seinen musikalischen Hintergrund und fährt fort: „That’s why „Late Night Tales Presents Version Excursion“ crosses time, space and genre, from The Beach Boys to The Beatles, Nina Simone to Marvin Gaye, The Bee Gees to Kool & The Gang, The Clash to Joy Division and beyond. You’d think it impossible to draw a line between ‚em? But not in my world. Fortunately, the ‘cover version’ has played an integral part in the evolution of Jamaican music and dub covers were just a natural extension.”
Was für eine coole Idee! Da Dub – zumindest in Letts Auffassung – Remix bedeutet, offeriert er hier ausschließlich Versions von Songs, die außerhalb des Reggae entstanden sind. Ein starkes Konzept, das nicht nur ästhetisch eine Runde Sache, sondern ideal geeignet ist, ein Mainstream-Publikum außerhalb des Reggae anzusprechen.
Ja, Don Letts ist der Missionar, der ich gerne wäre. Sich seiner Chance bewusst, begnügte er sich zudem keineswegs damit, eine schnöde Titelliste bei Late Night Tales einzureichen, sondern macht aus seiner kleinen Dub-Ausstellung ein richtiges Meisterwerk, indem er das Remix-Prinzip von Dub nicht nur zum Prinzip seiner Auswahl an Cover Versions, sondern auch zum Prinzip seiner Präsentation machte. Deshalb sind 13, seiner 21 Tracks „Exclusives“, also Remixe, bzw. Re-Dubs historischer Produktionen, die von Leuten wie Mad Professor, Scientist oder Dennis Bovell erstellt wurden.
Tja, der Mann ist konzeptverliebt – bin ich aber auch und kann daher seine Late Night Tales Version Excursions nur in den höchsten Tönen loben. Da die ganze Sache mit ordentlichem Budget und viel Marketing und aufgezogen wird, gibt es auch ein unterhaltsames Video, in dem Letts die Kriterien seiner Auswahl erläutert und ein paar Anekdoten zu den einzelnen Titeln zum Besten gibt. Cooler Typ und reichlich eloquent. Ein geborener Ambassador of Dub.